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Ein bisschen Heimat

Foto: Lucas Radermacher

Heimelig? Von wegen. Deutschland will kein Land für Asylbewerber sein. Für die Politik und für die Gesellschaft sind Asylsuchende ein Problem. Im Kleinen aber, mitten in der bayerischen Provinz, gibt es Asyl. Warum? Eine Spurensuche im Altmühltal.
Von Theresa Leisgang, Benedikt Winkel, Lucas Radermacher und Anne Wecking

 

“Ich heiße Avid. Ich komme aus Irak. Ich wohne in Eichstätt. Ich bin…”, hier stockt Avid. Mit den Zahlen hat er noch Probleme. “Siebenundfünfzig”, hilft ihm Clara, seine Lehrerin. Nach fünf Wochen Deutschunterricht kann der Familienvater nach der Uhrzeit fragen, kennt die Namen für Wochentage und Monate. Vor dem Unterricht ist er unruhig den Gang auf und ab gelaufen. Avid will nicht mehr auf seine Söhne angewiesen sein. Beide sprechen bereits gut Deutsch und fließend Englisch. Oft übersetzen sie für ihn.

 

Zweimal in der Woche lernt Avid deutsch, zusammen mit sieben anderen Flüchtlingen aus dem Irak und Afghanistan. Clara, ihre Lehrerin, studiert eigentlich Südamerikastudien an der Katholischen Universität Eichstätt. Sie engagiert sich im Projekt “tun – Starthilfe für Flüchtlinge” und leitet seit Oktober einen Anfängerkurs. Den entscheidenden Anreiz für das Engagement vieler ihrer Kommilitonen lieferte die Universität. Seit über einem Jahr können sich Studenten die Flüchtlingsarbeit als Praxismodul anrechnen lassen. In einer Ringvorlesung wird das komplexe Thema vertieft: Es geht um Asylrecht, Didaktik für Deutsch als Fremdsprache und die Rolle der Medien. Die katholische Universität Eichstätt ist Vorreiter dieses Konzepts, immer mehr Universitäten übernehmen es in den Lehrplan.

 

Und so treffen sich Alt- und Neu-Eichstätter regelmäßig zum Deutsch Lernen in der “Theke”, einem typischen Studentenzentrum mit Kicker, großer Bar und ausreichend Platz. Auch in 17 weiteren Ortschaften gibt es dieses Angebot für die Flüchtlinge im Landkreis. Die Teilnehmer in Claras Kurs wohnen alle in derselben Unterkunft, aber der Unterricht findet bewusst an einem anderen Ort statt. Denn das Angebot ist freiwillig, es soll kein Druck ausgeübt werden. Die Flüchtlinge sind wissbegierig: “Einmal pro Woche reicht ihnen nicht, das haben sie mir gleich in der ersten Stunde klargemacht”, sagt Clara.


Im Nebenraum, wo sonst die Technik der DJ’s lagert, gibt es eine alte grüne Drehtafel, ein Klavier, Stühle und Tische sind im Kreis angeordnet. Vitalii, Claras Kommilitone und “Lehrer”-Kollege, zeichnet eine Uhr an die Tafel: Wiederholung. Drei Uhr dreißig, oder? “Halb Vier”, murmelt Avid erst leise vor sich hin, dann ruft er die Lösung laut in den Raum.

Es ist wie in einer Schulklasse, nur dass die Schüler zwischen 30 und 50 Jahre alt sind. Die meisten jüngeren Flüchtlinge lernen in anderen Gruppen, weil sie Englisch sprechen. Mit einer gemeinsamen Sprache klappt die Kommunikation viel besser. Der Unterricht läuft flüssiger, wenn alle Schüler das lateinische Alphabet beherrschen. Das ist nicht selbstverständlich, einige Flüchtlinge haben noch nie eine Schule besucht. Immer wieder werden Unklarheiten auf Arabisch gelöst. Dann kann Clara verstehen, wie es ihren Schülern ging, als sie neu ins Altmühltal kamen.

 

Ein Jahr ist es her, dass die ersten Studenten im Modul “EduCulture” der Uni Eichstätt Asylhilfe geleistet haben. Auch damals gab es bereits in den Gemeinden rund um Eichstätt Deutschunterricht, ein Sommerfest und Unterstützung im Alltag. Vieles ist seitdem aber schwieriger geworden. Für die Flüchtlinge und die Ehrenamtlichen.

Anfang Oktober sind rund 200 Flüchtlinge in der neuen Erstaufnahme, einer ehemaligen Eichstätter Schule, angekommen. Alle anderen Asylbewerber wohnen nicht in Massenunterkünften, sondern in 27 Häusern im Umland – die Politik rühmt sich mit dem Projekt “dezentrales Wohnen”. Darüber hinaus kümmert sie sich aber nicht um die Flüchtlinge. Wie vielerorts in Deutschland sind dafür auch in Eichstätt Freiwillige im Einsatz. Ohne sie wäre die Situation für Gemeinden und Asylbewerber längst nicht mehr tragbar.

So hat sich nicht nur die Zahl der Flüchtlinge im Landkreis Eichstätt innerhalb des letzten Jahres mehr als verdoppelt, auch die Bereitschaft mit anzupacken ist stark gestiegen. Neben den Deutschlehrern gibt es individuelle Betreuer, die Flüchtlingen bei persönlichen Problemen unterstützen. Inzwischen sind 94 Studenten im Modul “tun – Starthilfe für Flüchtlinge” eingeschrieben und unzählige Ehrenamtliche aktiv, nicht nur Studenten. Aber es fehlt trotzdem überall. Um die Professoren und Studenten im Modul “tun” zu entlasten, wurde am Lehrstuhl für Didaktik der Deutschen Sprache ein zweites Projekt ins Leben gerufen – speziell für die Betreuung in der Erstaufnahmestelle. Wieder ist es die Universität, die schnell auf die neue Situation reagiert, ohne Zusage finanzieller Mittel des Landes.


Die Flüchtlinge in den kleinen Ortschaften sind dringend auf die Unterstützung angewiesen: Ohne Fahrdienst kommen sie nicht zum Arzt, ohne Dolmetscher sind wichtige Termine bei den Behörden fast unmöglich. Diesen Nachteil der dezentralen Unterbringung spüren auch die Deutschlehrer und individuellen Begleiter, die oft eine lange Anfahrt in Kauf nehmen. So kommen im Semester 60.000 Kilometer zusammen und ein beachtlicher Betrag von 18.000 Euro. Dabei fahren viele Ehrenamtliche ohne Abrechnung der Kilometerpauschale von 30 Cent, übernehmen die Kosten selbst. Viele fühlen sich von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen. Das Landratsamt ist ausschließlich für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig. Alles was darüber hinausgeht, organisieren die Studenten.


Ihre Sommerschule – ein Blockunterricht in den Semesterferien – mussten sie wegen Renovierungsarbeiten in die örtliche Berufsschule verlegen. Dafür wollte das Amt eine Miete von etwa 3000 Euro. “Dabei machen wir im Prinzip deren Arbeit”, sagt Karolina vom Organisationsteam. Im Jahr zuvor übernahm das Team sogar den Unterricht für die jugendlichen Flüchtlinge unter 25 Jahren in der Berufsschule für die jungen Flüchtlinge, unentgeltlich. “Da hätten die eigentlich Lehrer einstellen müssen.” Mittlerweile sitzen aber alle an einem Tisch und reden über die Finanzierung in der Zukunft.


Zudem gibt es kulturelle Differenzen. “Die meisten Flüchtlinge wissen nicht, was Ehrenamt ist. So ein Konzept gibt es einfach nicht in ihrer Heimat”, sagt Karolina. Einen engen Zusammenhalt kennen die meisten nur innerhalb der Familie. Flüchtlinge gehen oft davon aus, dass die externen Helfer gut für ihre Arbeit bezahlt würden, was für Unmut sorge. Nur durch Gespräche könne man deutlich machen, dass die Helfer aus eigenem Antrieb da sind.

Die vielen Ideen der Studenten werden aber sehr gut angenommen: Eine Nachfrage beim Boxclub, ob interessierte Flüchtlinge mittrainieren dürfen, hatte große Nachwirkungen. Seit dem Wintersemester 2014/15 stehen allen Flüchtlingen sämtliche Vereine offen – kostenfrei. Die Mitgliedschaftsbeiträge zahlt der Dachverband der Sportvereine in der Region. Genau solche “Härtefallregelungen” machen Eichstätt für die Asylbewerber ein bisschen mehr zu ihrer Heimat.

 

Dieser Artikel wurde im Dezember 2014 für Süddeutsche.de und das Projekt 360° "Europas Flüchtlingsdrama” aktualisiert.





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