von Tatjana Stella Kennedy
29. März 2022, 12:14 Uhr
Sieben Männer stehen vor vier Autos. Es ist grau, es ist März, es ist Kiel. Sie alle vereinen zwei Dinge: die Liebe zum Fußballverein Holstein Kiel und der Wunsch, etwas zu tun für die fliehenden Menschen aus der Ukraine. Am Ende dieser Geschichte werden nicht nur 181 Kartons voller Spenden den Umschlagplatz in der polnischen Stadt Zamość nahe der ukrainischen Grenze erreicht haben. Vor allem werden vierzehn Menschen, darunter fünf Kinder und ein elf Monate altes Baby über der Grenze und in Deutschland in Sicherheit sein.
Aber von vorne. Ganz am Anfang steht der Fußball und zwar die Liebe dazu. In Kiel ist sie bei den Ultras von Holstein Kiel ganz besonders zu spüren, vor allem bei den Jugendlichen. Um ihnen Rückhalt und Unterstützung zu sichern und sie bei Problemen aufzufangen, gibt es seit neun Jahren das „Fanprojekt Kiel“ in Trägerschaft der AWO Kiel. Finanziert wird das pädagogische Konzept durch das Land, die Stadt Kiel und die Deutsche Fußball Liga (DFL).
Von überallher brachten die Fans ihre Spenden
Der 35-jährige Jérôme Mühlstädt sitzt in einem Café in Kiel, neben ihm sein bester Freund Patrick Dierksen. Beide sind nicht nur selbst Holstein-Fan, Mühlstädt ist auch Leiter des Fan-Projektes und sieht sich als „kritischer Lobbyist für die Fans“ - damit stehen auch die Belange der jungen Fußball-Anhänger im Zentrum. Die Belange der Fans, das ist seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar vor allem der Wunsch, den Ukrainern zu helfen.
Fußballfans werden oft skeptisch beäugt, Hymnen-grölende Gruppen an Bahnhöfen, Stadionaggressivität. Dabei wird schnell vergessen, welche einende Kraft die gemeinsame Liebe zum Ballsport haben kann –und was für Berge sie versetzen kann. In diesem Fall hieß der Berg „Hilfe für die Ukraine“. Innerhalb weniger Stunden kamen Spenden aus ganz Schleswig-Holstein zusammen.
Spendenaufruf beim Spiel Holstein - Paderborn
„Für die Holstein-Fans war das eine große Sache, alle wollten in irgendeiner Art
aktiv werden“, erzählt Mühlst.dt. Zusammen mit „Block 501“, einem Holstein-
Kiel-Fan-Dachverband, wurde rund um das Sieben-Tore-Spektakel gegen den
SC Paderborn am 4. März zu Spenden aufgerufen. „Die Caritas Polen hatte
uns eine Liste geschickt mit Dingen, die gebraucht wurden“, erzählt der Kieler.
Die Spendenaufrufe über Social Media waren ganz konkret. „Nicht nur aus Kiel
ließen sich Leute blicken, Leute aus Schleswig, Kappeln, aus den Kleinstädten
- von überallher brachten uns die Fans ihre Spenden“, sagt Mühlstädt.
Mühlstädts Freund Patrick war von Anfang an dabei. „Vom Ultra bis Rentner
kamen die Fans an, manche zogen Anhänger voller Spenden, andere trugen
Taschen, kamen zu Fuß“, erinnert er sich. „Da hat man richtig gemerkt, dass
Holstein Kiel diese überregionale Strahlkraft hat - bis in die Dörfer hinein“, sagt
Dierksen, selbst Dauerkartenbesitzer. „Es war aber auch schnell klar, die Fans
wollten nicht nur anonym spenden“, sagt Dierksen. „Die Spenden selbst an die
Grenze bringen und Geflüchteten direkt helfen, das war das Ziel“, ergänzt
Mühlstädt.
Fahrt ins Ungewisse
Am 14. März, einem milden Frühlingstag, verlassen vier große Wagen Kiel –
zwei Sprinter und zwei 9-Sitzer. Acht Männer sind dabei, um die Autos zu
fahren, darunter sind fünf junge Männer aus Block 501 und ein junger Fan-
Projektler. Auch dabei: Jérôme Mühlst.dt und Patrick Dierksen. Die Luft in Kiel
verspricht Frühling, Leichtigkeit - aber die Herzen der beiden Männer sind
schwer. „Als wir da im Auto saßen, auf dem Weg ins Ungewisse, wurde mir das
erste Mal richtig mulmig zumute“, sagt Patrick Dierksen. Er hatte keine
Sekunde gezögert, als ihn sein Kumpel fragte, ob er helfen würde. „Ich hab
sofort Urlaub genommen und mit angepackt“.
Sieht aus wie ein Umzug: 181 Kartons mit Spenden sind nicht nur vorsortiert, sondern auch in vier Sprachen - Englisch, Polnisch, Ukrainisch und Russisch - beschriftet.
Am Tag der Abfahrt stellen sie sich alle noch einmal vor die Autos, ein
schnelles Foto von der Gruppe vor den Fahrzeugen, dann geht es los. Ihr Ziel
ist die polnische Stadt Zamość, nahe der ukrainischen Grenze. Dort hat ihnen
die Caritas geschrieben, sei der Spendenumschlagplatz. Auch gebe es dort
eine Sammelstelle für Geflüchtete aus den Kriegsgebieten.
Je näher wir der Grenze kamen, desto leerer wurden die Straßen
Als sie Kiel verlassen, wissen die beiden Männer erst von einer ukrainischen
Deutschlehrerin, die in Warschau sehnlichst darauf hofft, von ihnen auf dem
Rückweg mitgenommen zu werden. Sie hat Familie in Neumünster und möchte
dringend raus aus Polen. Von den Familien, die sie zwei Tage später
mitnehmen, wissen die Kieler noch nichts. Nach einer Übernachtung in
Frankfurt/Oder, wo der achte Helfer eingesammelt wird, geht's am Folgetag
über die polnische Grenze.
„Das war ein ganz beklemmendes Bild“, erzählt Dierksen. „Je näher wir der
Grenze kamen, desto leerer wurden die Straßen in Richtung Ukraine“, erinnert
er sich. „Militärfahrzeuge fuhren an uns vorbei und dann überall die
Solidaritätsbekundungen“. Der 36-Jährige berichtet von riesigen Pro-Ukraine-
Transparenten, die von Autobahnbrücken hingen, von Ukraine-Wimpeln an den
Autos, Ukraine-Flaggen am Straßenrand. „Die Polen zeigten da ganz deutlich
ihre Anteilnahme“, sagt Mühlstädt.
Ein Ort aus der Not heraus geboren
Am ersten Morgen in Zamość, nur rund 50 Kilometer von der ukrainischen
Grenze entfernt, geht es für Mühlstädt, Dierksen und die anderen auf dem
Umschlagplatz darum, die Spenden verteilen. Begeistert wird die Kieler Truppe
empfangen: Alle 181 Kartons mit Spenden sind nicht nur fein säuberlich
vorsortiert und in Excel-Listen klassifiziert, sondern auch in vier Sprachen -
Englisch, Polnisch, Ukrainisch und Russisch - beschriftet.
Auf dem Umschlagplatz in der polnischen Stadt werde die Spenden ausgeladen und verteilt.
Die Atmosphäre der Sammelstelle wirkt auf die Kieler skurril. „Das war mitten in
einem Kieswerk, da fuhren große Lkw rum, es gab riesige Lagerhallen, leere
Pappkartons und Müll flogen umher“, erzählt Dierksen. „Dazu liefen 14- bis 15-
jährige polnische Schüler herum und halfen, die Kisten zu entpacken und auf
Transporter zu laden“. Ein Ort aus der Not heraus geboren - ein chaotisches
Provisorium in Zeiten des Krieges.
Frauen mit Babies im Arm, Kinder mit Gesichtsverletzungen
Als die achtköpfige Kieler Gruppe fertig ausgeladen vom Kieswerk zur
Sammelstelle für Geflüchtete in Zamość fährt, erwartet sie dort ein
deutschsprechender Kontakt, der ihnen vorher schon telefonisch durchgab,
dass zwei bis vier Flüchtlinge auf sie dort warten. Doch es sollten weit mehr
sein. „Hinter großen Rolltoren, vor denen Polizisten die Herein- und
Herausfahrenden kontrollierten, stand ein riesiger Komplex aus Zelten“, sagt
Mühlst.dt. „Dort kamen uns Frauen mit Babys im Arm entgegen, alte
Menschen, es gab Kinder mit Verband am Kopf, mit Gesichtsverletzungen. Man
war einfachmittendrin.“ Der Kieler kämpft mit den Tränen.
Die 181 Kartons waren schnell umgeladen.
„Irgendwer stand dann da plötzlich mit Megafon in der Hand und rief Transport
nach Warschau und Deutschland. Und da standen Frauen mit Kindern auf,
Menschen bewegten sich auf uns zu“. Die Erinnerung an diese emotionale
Situation lässt beide Männern auch Tage danach nicht los.
Sieben Erwachsene, ein Baby und ein Kaninchen
Acht Menschen aus dem Flüchtlingslager Zamość finden in den Kieler
Transportern Platz. Eine Mutter und ihre Tochter, die ihr elf Monate altes
Kleinkind dabei hat, ein 14-jähriger mit seiner Mutter und Großmutter und
zuletzt die Mutter mit ihrem 12-jährigem Sohn, der sein Kaninchen in einer
großen Transportbox hält. Die restlichen freien Plätze sollen in Warschau
besetzt werden.
Nach drei Stunden Fahrt sind sie in Warschau. Kurzfristig hieß es, dass dort
eine Familie auf sie warte mit zwei Frauen und drei Kindern im Alter von vier,
sechs und acht Jahren. Zudem sammelt die Gruppe dort die ukrainische
Deutschlehrerin ein, die schon eine Woche unterwegs gewesen war, in
Luftschutzkellern übernachtet und Grausames gesehen hatte. „Die konnte auf
dem Rest der Fahrt zurück übersetzen“, so Mühlstädt. „Das war auch gut, denn
für alle war die Fahrt sehr aufreibend“.
14 Stunden dauert die Rückreise, die zunächst in Neumünster endet.
Vor allem die drei kleinen Kinder, jedes mit großem Rucksack auf dem Rücken und
Kuscheltier im Arm, aber auch die Mutter mit Baby sei sehr mitgenommen gewesen.
Zwischendrin wurde mit dem „Batko“ telefoniert, dem Papa an der Front. Der
Sozialarbeiter ist selbst vor wenigen Monaten Vater einer kleinen Tochter geworden, die
Erfahrung, den Kindern und der jungen Frau und ihrem Baby zu helfen, rührt ihn
persönlich sehr.
Angekommen
Nach vierzehn Stunden kommt die Autokarawane mitten in der Nacht in
Neumünster in der Erstaufnahme an. Vierzehn Menschen, darunter fünf Kinder,
ein elf Monate altes Baby und ein Kaninchen sind in Sicherheit.
„Als wir dann die Deutschlehrerin zu ihrer Familie brachten, in Neumünster und
sie ihrer Familie in die Arme fiel und alle geweint haben, das war schon heftig“,
erinnert sich Jérôme Mühlst.dt. „Um halb sechs morgens war ich dann zu
Hause und kuschelte mich zu meiner Familie. Das war das Härteste, diese
Erkenntnis, du legst dich zu deiner Familie und die anderen sind in einer
Notunterkunft und sehen ihren Papa vielleicht nie wieder“.
Zwei Männer sitzen in einem Café. Die Sonne scheint, es ist März, es ist Kiel.
Die beiden vereinen zwei Dinge: die Liebe zu Holstein Kiel und die Erinnerung
daran, etwas getan zu haben für die fliehenden Menschen aus der Ukraine.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
– Quelle: https://www.shz.de/36872377 ©2022Rétablir l'original