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Frankreich: Wenn Worte nicht mehr helfen

Es ist Sonntagvormittag in einem Vorort von Paris. Während seine Kinder auf dem Elternbett kuscheln und YouTube gucken, sitzt Youri in seinem katalogtauglich eingerichteten Wohnzimmer und trinkt Kaffee. Auf dem Couchtisch steht eine ganze Salatschüssel gefüllt mit Croissants - eine letzte Stärkung vor dem Einsatz.

Youri ist Mitte dreißig und arbeitet als sogenannter gardien de la paix - "Ordnungshüter". So nennt Frankreichs seine Einsatzkräfte ohne besonderen Dienstgrad. Gleich wird er nach Paris fahren und in den edlen Einkaufsstraßen der Innenstadt dafür sorgen, dass niemand den reichen Touristinnen und Touristen die Armbanduhren klaut. Gut möglich, dass er auf der Streife an zertrümmerten Schaufenstern oder niedergebrannten Werbetafeln vorbeikommt. Am Vortag protestierten hier wieder Zehntausende gegen die Regierung, so wie fast jeden Samstag seit über zwei Jahren. Momentan geht es um die Vereitelung von Macrons Rentenreform, doch auch gillet jaunes, die berühmten Protestierenden in gelben Westen, sowie einige Vermummte des sogenannten schwarzen Blocks waren dabei. Die Autonomen hinterließen Scherben und Asche und die immer gleichen Fernsehbilder vom Straßenkampf zwischen Demonstrierenden und Polizei.

Die französische Polizei gilt als eine der gewalttätigsten in Europa, das ist regelmäßig auch in der deutschen Presse zu lesen. Amnesty International kritisiert Frankreichs eskalierende Polizeigewalt und die Vereinten Nationen forderten die Regierung offiziell auf, die Einsätze bei Demonstrationen zu überprüfen. 2018 tötete ein Polizist in Nantes einen 22-Jährigen bei einer Polizeikontrolle. Im Dezember wurden erstmals französische Polizisten wegen ihres gewalttätigen Vorgehens während einer Gelbwesten-Demonstration strafrechtlich verurteilt. Vor wenigen Tagen kam ein Rollerfahrer nahe Paris bei einer Verkehrskontrolle ums Leben.

Für Journalisten ist es im streng hierarchischen Frankreich so gut wie unmöglich, Polizistinnen oder Polizisten zu interviewen. Das Reden ist nur autorisierten Sprecherinnen oder Sprechern oder Gewerkschaftspersonal gestattet. Doch Youri hat mich an diesem Sonntag eingeladen, um von seiner Arbeit zu berichten. Um das negative Bild der französischen Polizei geradezurücken. Mit dem Interview riskiert er seinen Job, deshalb haben wir seinen Namen verändert und schreiben nicht, wo genau das Interview stattfindet.

"Nach den Terroranschlägen waren wir Helden, jetzt sollen wir der Feind sein"

Er liebe Frankreich und sei stolz auf die französische Polizei, sagt Youri. Dass sie von Journalistinnen und Journalisten, Organisationen sowie Politikerinnen und Politikern immer mehr für ihren Gewalteinsatz kritisiert wird, ärgere ihn: "Nach den großen Terroranschlägen 2015 und 2016 feierte uns die Nation fast als Helden, als Beschützer der Bürger. Dass wir heute ihr Feind sein sollen, ist schwer zu glauben."

Youri beschreibt sich als Patrioten. Für Frankreich als Polizist zu arbeiten sei sein Kindheitstraum, doch in eine Uniform der police nationale schaffte er es zunächst nicht, er scheiterte an der Aufnahmeprüfung. Also wurde er stattdessen Feuerwehrmann. Nach dem Attentat am 13. November 2015, als islamistische Terroristen einen Konzertsaal und ein umliegendes Ausgehviertel stürmten und 130 Menschen töteten, bewirbt er sich erneut bei der Polizei. "Ich habe das als ein republikanisches Erwachen empfunden. Ich wollte mich nützlich fühlen", sagt er. Über Monate hatte der Familienvater täglich nach der Arbeit Bücher gewälzt und sich auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet. Endlich wurde der Traum Realität. Als Novize muss Youri zunächst bestimmte Gebäude bewachen. Er steht mit regloser Mine vor Polizeistationen, Synagogen oder Verkehrsknotenpunkten, das Gewehr im Anschlag.

Einige Zeit später wechselt der junge Polizist die Einheit. Er wird jetzt Teil einer Art schnellen Einsatztruppe, die im Verbund herbeieilt, wann immer es im Stadtzentrum zu Ausschreitungen kommt. Eigentlich ein guter Job, sagt Youri, wären da nicht die Gelbwestenproteste, die just zur selben Zeit im ganzen Land losbrechen.

16-Stunden-Arbeitstage, 16 Kilo schwere Schutzmontur

Einer seiner prägendsten Arbeitstage in seiner neuen Rolle ist der 1. Dezember 2017. Es ist der dritte Samstag mit Massenprotesten in Folge, er sollte als einer der gewalttätigsten in die Geschichte der Bewegung eingehen. "Von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends waren wir im Einsatz", sagt Youri. Während bürgerkriegsähnliche Bilder der Proteste um die Welt gehen, ist Youri Teil der Straßenschlachten nahe den Champs-Élysées. Der Einsatz hätte ihn von allen am meisten geprägt, sagt er. Er hätte rund 20 Kilometer in seiner 15 bis 20 Kilogramm schweren Schutzmontur zurückgelegt. "Überall flogen Gegenstände, Pflastersteine, Glasflaschen und es war einfach kein Ende in Sicht."

Für den Polizisten sollten in den nächsten zwei Jahren Dutzende dieser Samstage folgen. Dabei sei es immer wieder zu Gewaltanwendung, auch seitens der Polizei, gekommen. "Ich habe Polizeiautos brennen sehen und Demonstranten, die unsere Fahrzeuge plünderten", sagt Youri. Militante Demonstrierende hätten die Polizei mit Molotowcocktails angegriffen - "Kriegswaffen", wie Youri sie nennt. Seine Kinder bekommen zunehmend Angst um ihren Vater, wenn sie die erschreckenden Bilder in den Abendnachrichten sehen. Vielleicht steckte er in einer dieser dunkelblauen Uniformen und prügelte sich mit dem schwarzen Block? "Es waren Guerilla-Situationen", sagt Youri. Irgendwann erzählt er seinen panischen Kindern, er habe keine Lust mehr auf die Demonstrationen und helfe an Samstagen wieder bei seinen alten Kumpels von der Feuerwehr aus.

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