In einer Sommernacht findet Karina Papp ihren ersten Schatz. Die junge Frau läuft durch Berlin-Neukölln, da entdeckt sie einen Pappkarton vor einem Hauseingang, darauf ein Zettel: "zu verschenken". Sie zögert, dann fischt sie ein Paar Pumps aus der Box. Die schmal geschnittenen Schuhe sind aus schwarzem Leder und sehen aus wie neu, erinnert sich Papp. Die Pumps sind das erste Kleidungsstück, das sie von der Straße mitnimmt - und der Anfang eines Projekts, mit dem die 32-Jährige den Modekonsum vieler Menschen umkrempeln will.
Das Geschäft mit der Mode entwickelt sich wie das des Essens: fast statt slow. 65 Kleidungsstücke kauft jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr, das ist mehr als ein Teil pro Woche. Vor allem jüngere Menschen eifern Influencern wie Pamela Reif oder Toni Mahfud nach und möchten die Teile tragen, in denen sich ihre Vorbilder präsentieren. Viele Textilunternehmen suchen nicht mehr auf der Straße nach Trends, sondern in sozialen Netzwerken wie . Ihre Entwürfe produzieren sie innerhalb weniger Tage. Die Beratungsfirma Coresight berichtet, dass der britische Online-Modehändler Asos bis zu 4500 neue Teile pro Woche auf seine Plattform bringt. Während Modeketten wie H&M unter den Corona-Ladenschließungen litten - der Umsatz des schwedischen Unternehmens brach im zweiten Quartal 2020 um die Hälfte ein -, prosperierten Ultrafast-Fashion-Händler wie Asos oder Boohoo, die ausschließlich im Netz verkaufen.
Kleidungsstücke kauft jeder Deutsche im Schnitt pro Jahr. Das ist mehr als ein Teil pro Woche.
Karina Papp ist Mitte 20, als sie ihre Einstellung zu Mode erstmals hinterfragt. Bis dahin kaufte sie ihre Klamotten bei den großen Ketten. Sie beginnt, in Secondhandläden zu gehen, wo sie Kleider mit Schulterpolstern und Spitzenkragen kauft. "Ich wollte einfach anders aussehen und nicht im gleichen H&M-Oberteil rumlaufen wie meine Nachbarin", sagt sie. Papp bemerkt, dass ihre Sachen aus den Achtzigern länger halten als ihre wenige Monate alten T-Shirts der Modeketten. Warum, das ist aus ihrer Sicht klar: weil die Unternehmen mehr verkaufen wollen.
Diese Erkenntnis veranlasst Papp dazu, ihren Modekonsum radikal zu reduzieren: Sie kauft nur noch Unterwäsche und Socken im Geschäft, den Rest sammelt sie auf der Straße. Dort entdeckt sie fast alles, was sie braucht. Dazu geht sie noch nicht mal auf die Suche, sondern hat einfach oft einen Jutebeutel dabei, falls sie eine Give-Box sieht, in der Leute ausrangierte Dinge zum Mitnehmen auf die Straße stellen. Es ist die billigste und schnellste Art, den Kleiderschrank zu bestücken. "Die Glogauer und Reichenberger Straße sind sehr großzügig", hat sie festgestellt und findet, das System der immer schnelleren Mode sei "viel ekliger", als gebrauchte Kleidung von der Straße aufzusammeln.
2015 starten Papp und ihre Freundin Anna Vladi ein Blog, auf dem sie sich in Outfits zeigen, die sie auf der Straße gefunden haben. Sie nennen ihn "Found on the Street". Später erstellen sie einen Instagram-Account. Die Fotos sehen aus, als stammten sie aus einer Modezeitschrift. Oft stehen Papp und Vladi selbst Modell. Sie posieren in Oversize-Sakko, marineblauem Pullover mit schwarzen Blumenprints oder Vintage-Bluse mit weiter weißer Krempe in Berliner Hinterhöfen.
"Letztens habe ich einen top Trenchcoat gefunden"Eigentlich wollten die beiden damit nur ihre Freunde wissen lassen, woher ihre Klamotten kommen, weil sie immer wieder darauf angesprochen werden. Das Blog und der Instagram-Kanal sollten nur ein Nebenprojekt sein; die beiden Frauen sind hauptberuflich literarische Übersetzerinnen.
Doch die positive Resonanz überraschte sie. Heute hat ihr Kanal 15.000 Follower. Inzwischen verstehen sich die beiden als Fashion-Aktivistinnen. "Wir möchten die Leute dazu bringen, ihr Konsumverhalten zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen", sagt Papp.
Auch wenn nicht alle gleich begriffen, worum es den beiden geht. "Meine Eltern wollten mir erst mal Geld schicken, als ich ihnen erzählte, was ich mache", erzählt Papp. Auch viele Freunde hätten es anfangs falsch verstanden und gedacht, dass sie finanzielle Probleme habe. "Ich musste immer wieder klar kommunizieren, dass ich das aus einer aktivistischen Haltung raus mache. Und dass ich Spaß an diesem Lebensstil habe."
An einem Sonntagmittag Ende August geht Karina Papp auf Kleiderjagd. Sie will zeigen, dass die Straßen von und Kreuzberg wie ein riesiger Kostümfundus sind, wenn man nur genau hinschaut. Papp schiebt ihr klappriges Damenrad am Ufer des Landwehrkanals entlang. Mit ihren wasserstoffblonden Haaren und dem weißen Oversize-Jackett passt sie zum Kiez. Normalerweise gehe sie so gut wie nie aktiv auf Kleidersuche, sagt Papp, das meiste entdecke sie nebenbei. Und tatsächlich: In einer Tauschbox findet sie ein T-Shirt und eine Hose. Die könne sie für einen Auftritt ihres Chors gut gebrauchen, sagt Papp. Nach 15 Minuten erspäht sie einen Karton, in dem akkurat gefaltete Hosen und Shirts gestapelt sind. Und ein paar Straßen weiter entdeckt sie Kinderkleidung auf einem Fensterbrett im Erdgeschoss, darunter stehen handgefilzte Kinderschuhe. Die sind nicht das einzige wertvolle Fundstück. "Letztens habe ich einen top Sherlock-Holmes-Trenchcoat von Bugatti gefunden", sagt Papp. Die Menschen hätten zu viel Kleidung, wollten alte Teile möglichst einfach loswerden. Papp vermutet, dass das eine Mischung aus Bequemlichkeit und guter Tat ist.
Jeder kann seine Käufe kritisch analysierenIn der Forster Straße hat eine Familie einen Tisch auf den Bürgersteig gestellt und isst zu Mittag. Dort entdeckt Papp in einem Hauseingang die dritte Box an diesem Tag. Darin: Männerhemden und Jeans, frisch gewaschen. Sie freut sich wie ein Kind. Letztens habe sich eine Bekannte, die Größe XL trägt, bei ihr beklagt, dass Kleidung von der Straße nur schlanken Frauen passe, erzählt sie. Nun habe sie den Beweis, dass das nicht stimme. "Klar ist es leichter, bei H&M oder Zara ein T-Shirt für fünf Euro zu kaufen, als sich Kleidung auf der Straße zusammenzusuchen", sagt Papp. Aber es sei möglich. Die Ausbeute nach dem etwa einstündigen Streifzug kann sich jedenfalls sehen lassen: ein weißer Babystrampler, die Filzschuhe, ein grün-schwarzes Shirt mit Chanel-Musterung, ein Minirock mit Leopardenmuster, eine Leinenhose, ein dunkelgrünes Shirt mit halblangen Ärmeln und Rollkragen.
Papp und Vladi sind Teil einer Gegenbewegung zur schnellen Mode. "Es geht darum, Mode mit Geduld, Abwägung ethischer Argumente und Ressourcen-Bewusstsein zu produzieren und konsumieren", sagt Dominique van de Pol, die Autorin des Buchs Achtsam Anziehen. Grüne Labels fielen genauso darunter wie vegane Mode oder Upcycling, also alte zu neuer Kleidung zu verwerten. Die Bewegung geht vor allem auf ein Ereignis zurück: Am 24. April 2013 stürzte die achtstöckige Textilfabrik Rana Plaza in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, ein. 1100 Menschen starben. Für Politik, Industrie und Konsumenten war die Tragödie ein Wendepunkt, denn sie offenbarte, wie grauenhaft die Produktionsmethoden oft sind. Seither versucht auch die Bundesregierung zu handeln: 2019 führte sie den "Grünen Knopf" ein. Das freiwillige Textilsiegel soll garantieren, dass die teilnehmenden Firmen soziale und ökologische Standards einhalten, zum Beispiel Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften am Arbeitsplatz, Arbeitspausen, einen Mindestlohn und eine maximale Stundenzahl.
Auch die Auswirkungen der Textilindustrie auf die Umwelt sind massiv. Sie habe 2015 rund 1,2 Milliarden Tonnen CO₂-Äquivalente produziert, berichtet die britische Ellen-MacArthur-Stiftung. Das ist mehr, als alle Schiffe und Flugzeuge in einem Jahr ausstoßen. Die Frage ist, wie sich diese katastrophale Ökobilanz ändern lässt. "Das funktioniert nur, wenn Staat, Politik und Bürger zusammenarbeiten", sagt van de Pol. "Ein erster Schritt ist es jedoch, wenn jeder für sich Verantwortung übernimmt." Jeder könne zum Beispiel seine Kleidungskäufe kritisch analysieren. Corona habe gezeigt, dass Politik und Bürger fähig seien, in kürzester Zeit etwas zu ändern.
Karina Papp, die Kleiderjägerin aus , zieht die schwarzen Pumps noch heute an. "Am liebsten zu offiziellen Anlässen", sagt sie und lacht. Es mache ihr Spaß, ihren Fund von der Straße zu einem Hosenanzug zu tragen.