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Wenn aus Liebe Gewalt wird

Symbolbild: dpa

Sie wurden mit der Faust geschlagen, in den Bauch getreten oder aufs Schlimmste beleidigt. In einem Wohnhaus in Rodgau leben Frauen, die samt Kindern vor ihren Männern geflüchtet sind. Bei einem Besuch im Frauenhaus erzählt eine ehemalige Bewohnerin ihre Geschichte. 


Der Tag, an dem er ausgerastet ist, war der Tag, an dem für Maria ein neues Leben begann. Eigentlich heißt sie anders, doch seit sie weggerannt ist, muss sie sich in der Öffentlichkeit schützen. Zu groß ist die Angst vor weiteren Schlägen des Mannes, den sie einst geliebt und geheiratet hat. Dem sie vertrauen konnte. Bis er anfing, sich zu verändern.

Maria sitzt auf einem Rattanstuhl in einem hellen Raum und erzählt von der Nacht im Sommer 2016, als sie ihren Mann verließ und hier, in diesem Wohnhaus in Rodgau, Zuflucht fand. Ein Dreivierteljahr lang lebte sie in einem der Zimmer. Daheim war sie nicht mehr sicher.

Das Haus hat kein Schild an der Klingel. Ein blickdichter Zaun schirmt die Bewohner von der Straße ab. Nur die Eingeweihten kennen den Ort, an dem Frauen mit ihren Kindern Zuflucht finden können. Im Haus ist es still, die Bewohnerinnen haben sich zurückgezogen. Hier und da taucht ein Kind im Flur auf und begrüßt den Besuch mit einem schüchternen Lächeln. Die Mütter wollen unerkannt bleiben.

Maria ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie ist Marokkanerin, 41 Jahre, sieht wie eine Studentin aus. Wenn sie spricht, legt sie ihre Hände offen auf den Tisch. „Zu viel Probleme, zu viel Druck" waren Gründe für ihre Flucht, sagt Maria in gebrochenem Deutsch. Vier Jahre war sie verheiratet, bis sie die Scheidung einreichte. Zwei davon lebte sie mit ihrem (Noch-) Ehemann, den sie in ihrem Heimatland kennenlernte, in Deutschland. Gemeinsame Kinder haben sie nicht.

Mit den Jahren habe sich ihr Mann verändert, sagt Maria. An manchen Tagen saß er stumm drei Stunden lang mit einer Tasse Kaffee am Tisch und starrte ins Leere, erzählt sie. Er wurde schnell nervös, unberechenbar, redete nicht mehr viel. Warum, weiß sie nicht. Sie kann es sich nicht erklären. Vielleicht zu viel Stress auf der Arbeit? Er hat nie mit ihr darüber geredet. Oder war er krank?

Es sei immer häufiger zum Streit gekommen. Manchmal ohne Grund, beteuert sie. „Ich bin kein lauter Mensch", sagt Maria über sich, es kam dennoch zu hitzigen Auseinandersetzungen. An einem Tag im Juli 2016 verlor ihr Mann im Wortgefecht die Kontrolle. Er zerrte an ihren Klamotten, schubste sie. Und schlug ihr ins Gesicht. Die junge Marokkanerin ahmt am Tisch die Bewegung nach, die Handfläche nach vorn gerichtet, die Finger gekrümmt. Sie macht eine schnelle Bewegung Richtung Nase. Mitten rein.

Marias Gesicht schmerzte. Der Schock saß tief, aber sie reagierte sofort. Stundenlang schloss sie sich in ihrem Zimmer ein, wartete ab, bis ihr Mann noch in derselben Nacht zur Arbeit ging. Sie flüchtete zu einer Bekannten. Mit zwei Einkaufstüten im Gepäck: darin ein paar Klamotten, Hygieneartikel, ihr Pass.

Ihre Bekannte nahm Maria über Nacht in ihrer Wohnung auf und suchte ihr am nächsten Morgen die Nummer des Frauenhauses heraus. Maria rief dort an und wurde direkt aufgenommen. In ihrem neuen Zimmer war sie sicher.

Wenn Maria von diesem Tag vor eineinhalb Jahren erzählt, klingt sie aufgebracht. Die Beziehung habe sie kaputtgemacht, sagt die 41-Jährige: „Ich konnte nicht mehr. Ich hatte zu viel Angst." Die Nächte nach der Flucht wurden für Maria zur Tortur. „Ich habe drei bis vier Wochen lang nicht richtig geschlafen", berichtet sie. Die Ungewissheit, wie es weiter geht, wurde zur Qual.

Nach und nach kam sie in ihrem neuen Zuhause zur Ruhe. Die Frauen um sie herum teilten ihr Schicksal: misshandelt von ihren Männern, geflüchtet, alles hinter sich gelassen. Maria fand Freundinnen im Frauenhaus. Sie waren füreinander da, unterstützen sich noch heute.

Das Frauenhaus ist wie eine Wohngemeinschaft, und wie in einer WG kommt es auch dort zum Streit. Durch solche Konflikte lernen die Frauen, eigene Grenzen und die der anderen kennenzulernen, sagt die Sozialarbeiterin Sylke Borgsmüller. Sie und ihre Kollegin Karin Hübner haben Maria ein Dreivierteljahr lang begleitet.

Die Marokkanerin ist für Borgsmüller und Hübner ein gutes Beispiel dafür, wie Frauen nach einem brutalen Angriff wieder auf die Beine kommen. „Sie war eine der wenigen Frauen, die bei ihrer Ankunft sehr klar war", sagt Sylke Borgsmüller über die ehemalige Bewohnerin. „Sicher war sie traurig, aber sie hatte keine Zweifel."

SOS vom Smartphone: Das Mobiltelefon als Nothelfer

Maria hat nie wieder ein Wort mit ihrem Mann gesprochen. Fast ein Jahr ist es her, seit sie das Frauenhaus verließ, um wieder alleine zu leben. Motivierende Videos im Internet helfen ihr dabei, daran zu glauben, dass sie alles schaffen kann. Den Kopf bekommt sie beim Joggen frei. Für die Zukunft hat Maria klare Ziele: „Ich möchte mich weiterbilden und hier gute Arbeit machen", sagt die berufstätige Frau. Dazu gehört auch, besser Deutsch zu sprechen.

Auf die Frage, ob sie ihren Mann trotz all dem manchmal vermisst, antwortet Maria nüchtern. „Was soll ich vermissen? Das kann man nur, wenn etwas positiv ist." Das Vertrauen in das andere Geschlecht hat sie nicht verloren, versichert Maria. „Es gibt nicht nur schlechte Männer", weiß sie.

Zollt man der 41-Jährigen Respekt für ihre Tapferkeit, bekommt der innere Schutzschild, den sie sich mühsam aufgebaut hat, Risse. Dann füllen sich Marias Augen mit Tränen. Der Schlag hat Spuren hinterlassen. „Ich habe negative Erfahrungen gemacht. Es ist okay, wenn man weint", sagt Maria, als sie sich wieder gefangen hat. „Das Leben geht weiter."


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