Immer mehr Menschen infizieren sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie Syphilis oder Chlamydien. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von einer stillen, gefährlichen Epidemie. Doch die Corona-Krise könnte hier eine einmalige Chance bieten.
"Es war eine ungewohnte Situation", erzählt Enrico, als er sich an seinen ersten Test auf Geschlechtskrankheiten erinnert. Der liegt mittlerweile schon zwölf Jahre zurück. "Damals juckte und brannte es im Schritt", sagt der 33-Jährige. Die Diagnose: Chlamydien. Eine Woche Antibiotikum, danach war er die Krankheit wieder los. Seither hat sich Enrico, der in Leipzig lebt und beruflich oft nach Berlin kommt, mehrfach wieder mit sexuell übertragbaren Krankheiten infiziert. Sein Partner und er führen eine offene Beziehung, Sex mit anderen Männern ist also erlaubt. Deshalb sei der regelmäßige Gang zum Test für ihn mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so: "Früher hatte ich Bedenken und wusste nicht, wie ich mit dem Ergebnis umgehen soll."
Die Zahl der Neuinfektionen mit Krankheiten wie Syphilis, Chlamydien oder Tripper, steigt laut Epidemiologischen Bulletin vom Robert-Koch-Institut [rki.de] in Europa seit Jahren an. Die Weltgesundheitsorganisation spricht deshalb sogar schon von einer stillen, gefährlichen Epidemie - es klingt zwar absurd, aber die Tatsache, dass sich immer mehr Frauen und Männer anstecken, hängt auch mit der verbesserten Therapie zusammen. Die Angst, sich mit HIV zu infizieren, nimmt ab - viele Menschen sind deshalb unvorsichtiger und benutzen keine Kondome mehr.
Gerade der Anteil heterosexueller Menschen, die HIV-positiv sind, nimmt seit Jahren zu. Das Europäische Zentrum für Krankheitsprävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), hat die Entwicklung der Syphilis für 30 europäische Staaten von 2007 bis 2017 analysiert. Das Ergebnis: Die Zahl der bestätigten Fälle stieg um 70 Prozent [ecdc.europa.eu]. In Berlin gibt es, laut Epidemiologischen Bulletin vom Robert-Koch-Institut [rki.de], deutschlandweit die meisten Ansteckungen mit der Krankheit pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die Zahl geht aber wieder deutlich zurück. In Brandenburg wiederum gibt es nach Thüringen die wenigsten Fälle.
Was für Enrico mit der Zeit zur Routine wurde, ist für Sven Schellberg beruflicher Alltag. Er leitet eine Schwerpunktpraxis zu sexueller Gesundheit in Berlin-Mitte und beschäftigt sich täglich mit Krankheiten wie Syphilis oder Chlamydien. Auch er bestätigt: "Es gibt eine deutliche Zunahme an sexuell übertragbaren Krankheiten." Mittlerweile kämen außerdem viele Patientinnen und Patienten mit Krankheiten in seine Praxis, die er früher nie diagnostizierte. "Es sind nicht mehr nur die üblichen Geschlechtskrankheiten."
Nach einer Diagnose werden die meisten sexuell übertragbaren Krankheiten mit Antibiotika behandelt. Deshalb kommt es mittlerweile verstärkt zu Resistenzen. 2018 gab es die ersten Fälle eines sogenannten Super-Trippers in England, der auf kein Antibiotikum mehr anspricht. Außerdem führe die Einnahme der PrEP - einer Pille, die bei täglicher oder anlassbezogener Einnahme vor HI-Viren schützt - dazu, dass sich andere Krankheiten schneller verbreiten, da immer mehr Menschen auf Kondome verzichten.
"Sexualität ist durch Dating-Apps und Partys freier verfügbar", sagt Sven Schellberg. Menschen hätten weniger lange Sexualkontakte und häufig wechselnde Partnerinnen und Partner. "Eine Geschlechtskrankheit ist nicht unanständiger als ein Schnupfen", sagt er und plädiert für einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit diesen Krankheiten. Nur so könne man mehr Menschen dazu bringen, zum Test zu gehen. "Wir müssen aufhören, uns für diese Krankheiten zu schämen."
Weil viele dieser Geschlechtskrankheiten asymptomatisch verlaufen, also ohne dass die infizierte Person irgendwas davon merkt, sei es wichtig, dass der regelmäßige Test Routine wird. Aufgrund der weltweit verhängten Kontaktsperren während der Corona-Krise sieht John McSorley, der Präsident der British Association for Sexual Health and HIV, einen möglichen Wendepunkt. Deshalb rief er in der BBC dazu auf, sich auf Geschlechtskrankheiten testen zu lassen - unabhängig davon, ob man Symptome zeigt.
Enrico ist der offene Umgang mit Geschlechtskrankheiten wichtig und engagiert sich deshalb seit Jahren bei der Aids Hilfe. "Ich merke immer wieder, wie schambehaftet das Thema ist", sagt er. Er verstehe, wieso es manchen Menschen schwer fällt, über eine positive Diagnose zu sprechen. Aus diesem Grund informiere er Interessierte auf Veranstaltungen der Aids Hilfe oder verteile Kondome auf Partys.
Manche reagieren zurückhaltend, die meisten fassen aber schnell Vertrauen und seien dankbar über die Informationen. Da Enrico selbst betroffen war, kann er mittlerweile selbstbewusst darüber sprechen. Er möchte so dafür sorgen, dass das ein oder andere Vorurteil abgebaut und Wissen über die unangenehmen Krankheiten verbreitet wird.
Video : rbb|24 | 21.06.2020 | Steven Meyer | Victor Pfannmöller