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Kolumbien: Todesursache "Gewalt"

288 Kilometer Luftlinie, aber fast 700 Straßenkilometer trennen San Vicente del Caguán, im Süden Kolumbiens gelegen, von der Hauptstadt Bogotá. Mund-Nasen-Masken sind in Caguán heute ebenso Teil des Alltags wie Flecktarn und Gummistiefel. Derzeit kämpft die Welt gegen eine Pandemie - doch die Gewalt in Caguán war schon immer da. Sie ist endemisch, historisch.

Mario Paciolla versuchte diese Gewalt im Dienst der Vereinten Nationen einzudämmen. Am vergangenen 15. Juli fand man ihn erhängt und mit aufgeschnittenen Armgelenken in seinem Haus in San Vicente del Caguán. Die Todesursache laut Totenschein: "Gewalt". Die örtliche Polizei erklärt, es habe sich um einen Suizid gehandelt, doch viele Beobachter bezweifeln das. Die bekannte kolumbianische Investigativjournalistin Claudia Julieta Duque, die sich des Falles angenommen hat, schreibt auf Twitter: " Mario starb nicht, Mario wurde getötet." Paciolla war italienischer Staatsbürger. Deshalb führt der Fall nun zu internationalen Verwicklungen.

Das Schweigen der UN

Seit Jahren werden in Kolumbien Menschen getötet, die sich für den Frieden engagieren - die Zahl der Morde steigt stetig und fast nie werden die Täter bestraft. Nun ist zum ersten Mal ein UN-Mitarbeiter im Land gewaltsam ums Leben gekommen. Selbst wenn die Hintergründe des Falls noch nicht geklärt sind: Er zeigt erneut, wie brüchig der Friedensprozess ist, vor allem, weil die Vereinten Nationen sich so gut wie nicht zum Tod ihres Mitarbeiters äußern. Der politische Analyst Giacomo Finzi sagt, ihr Schweigen bezeuge ihr "Versagen" in der Begleitung des Friedensprozesses.

Paciolla arbeitete seit 2018 für die UN-Verifizierungsmission (UNVMC) in der Region Caguán im Departement Caquetá. Der Auftrag der UNVMC ist es, die Umsetzung des 2016 vereinbarten Friedensvertrags zwischen der Farc-Guerilla und der kolumbianischen Regierung zu überwachen. Paciolla kannte das Land gut: Er hatte zuvor zwei Jahre als Freiwilliger für die NGO Peace Brigades International (pbi) in Kolumbien gearbeitet. Jetzt fordern die Organisationen, für deren Menschenrechtsaktivisten er sich damals einsetzte, Gerechtigkeit für ihn.

Seine Freunde beschreiben Paciolla als Idealisten. Seine Mutter Anna Motta nennt ihn einen "brillanten Weltreisenden". Von Eltern und Schwestern in seiner Heimatstadt Neapel hatte sich der 33-Jährige kurz nach Weihnachten vergangenen Jahres verabschiedet, um erneut nach Kolumbien aufzubrechen. Am 20. Juli sollte er zurückkehren - Paciolla hatte seinen Flug auf dieses Datum vorverlegt, offenbar aus Sorge um seine Sicherheit. "Mario war ruhig, als er ging", zitiert die Tageszeitung La Repubblica seine Mutter, doch in San Vicente del Caguán, "in Kontakt mit Menschen und Umständen, die er leider nicht spezifizierte", hätten "seine Qualen" begonnen.

Stephan Kroener

ist Historiker für die Geschichte Lateinamerikas und freier Journalist in Bogotá. Von 2012 bis 2014 arbeitete er in Kolumbien für die Peace Brigades International (pbi) - die gleiche NGO, für die Mario Paciolla von 2016 bis 2018 ebenfalls in Kolumbien im Einsatz war. Beide begegneten sich 2016 im Teamhaus von pbi in Bogotá.

Motta sagte der Zeitung, etwa seit dem 10. Juli sei ihr Sohn sehr besorgt gewesen. In mehreren Skype-Gesprächen habe er sehr angespannt geklungen und geäußert, große Angst zu haben. Sie war deshalb froh, als er ihr wenige Tage vor seinem Tod mitteilte, er habe eines der wenigen Tickets für einen humanitären Rückflug bekommen. Am 15. Juli sollte Paciolla die lange und - auch aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie - zeitraubende Strecke nach fahren, um dort auf seinen Flug zu warten. Doch es war der Tag, an dem man ihn tot auffand.

Todeszeitpunkt zwei Uhr früh

Das Haus, das er in San Vicente bewohnte, liegt nur wenige Blocks von der Polizeistation entfernt. Auf Fotos sieht man ein einfaches, zweistöckiges Gebäude mit einer weißen Fassade und dekorativ vergitterten Fenstern. Die Veranda reicht bis zur Straße, die Grundstücke zu beiden Seiten sind unbebaut.

Aber die Wände des Hauses müssen dünn sein, denn der Vermieter und Nachbar berichtete der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo, Paciolla habe in der Nacht vor seiner geplanten Abfahrt etwa zwischen zehn und elf Uhr abends laut und "etwas aufgeregt" mit jemandem auf Italienisch telefoniert. Claudia Julieta Duque schreibt in einem Beitrag im El Espectador, dass Mario zuletzt um Viertel vor elf auf WhatsApp online war. Laut der Sterbeurkunde trat sein Tod etwa gegen zwei Uhr früh ein. Niemand bemerkte etwas, bis morgens ein weißer SUV mit UN-Emblem vorfuhr, um Paciolla abzuholen.

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