London. Er riecht nach Alkohol und Urin. An manchen Tagen legt er sich einfach in einen Park, verdeckt sein Gesicht mit Zeitungen. Er sei dann fast wie unsichtbar, sagt er leise, dabei würde ihn aber sowieso niemand mehr wirklich wahrnehmen. Bob, Mitte 50, zotteliger Bar, lange Haare. Seit 13 Jahre ist er obdachlos, inzwischen auch Alkoholiker.
Eine Zeitlang habe er auf der Couch eines Freundes übernachten können oder bei irgendjemandem, der ihm Platz angeboten habe, erzählt Bob. Inzwischen ist es meist die Parkbank. „Eigentlich habe ich niemanden“, sagt Bob. Frau und Sohn hätten ihn schon vor längerer Zeit verlassen, seinen Job als Koch habe er verloren. „Ich kenne viele, denen es genauso ergangen ist.“ Und noch eines hätte sie alle gemeinsam: Keine Aussicht auf Hilfe.
Sadiq Khan, seit einem halben Jahr Bürgermeister von London, will das ändern: „In einer der weltweit größten Städte können wir uns nicht einfach zurücklehnen und nichts tun“, schreibt er in der englischen Tageszeitung „The Guardian“.
In London leben nach Angaben der Stadtverwaltung mehr als 8000 Menschen auf der Straße, doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Die wirkliche Zahl wird noch deutlich höher geschätzt. Denn die offizielle Statistik erfasst nur die Menschen, die dauerhaft in Parks oder unter Brücken, in verlassenen Häusern oder Lagerhallen schlafen.
Sobald jemand ein paar Nächte bei Freunden oder im Heim unterkommt, entlastet er die Statistik – obwohl er kein eigenes Dach über dem Kopf hat. Steigende Mieten drängen immer mehr Niedrigverdiener und Arbeitslose in diese Notsituation.
Um das Problem einzudämmen, richtet Khan eine Arbeitsgruppe mit Vertretern verschiedener Einrichtungen und Bezirksverwaltungen ein. Ihr Fokus soll vor allem auf jungen obdachlosen Menschen liegen. Diese sollen Hilfe bei der Suche nach einem Job bekommen und bei familiären Problem. Damit spricht Khan bisher aber nur einen kleinen Teil der Obdachlosen in London an.
Massive Wohnungsknappheit verschärft die Probleme
Bob gehört nicht dazu – trotz fehlendem Wohnsitz, dreckigem Schlafsack und Alkohol-Abhängigkeit. Er zählt auch nicht zu den Menschen, denen nach Vorgaben der Stadtverwaltung schnell geholfen werden müsste. Er hat keine Kinder zu versorgen, keine Naturkatastrophe überlebt.Zwar zählen auch ältere und kranke Menschen zu denen, denen staatliche Hilfe eigentlich zusteht. Doch Experten werfen den Behörden vor, einen großen Spielraum bei solchen Entscheidungen zu haben, so dass Hilfsbedürftige wie Bob schon mal untergehen.
In Deutschland sieht die Situation anders aus. Es gibt zwar keinen Rechtsanspruch auf eine Wohnung, aber einen Rechtsanspruch auf eine „ordnungsrechtliche Unterbringung“ wie eine Sammelunterkunft. Auf der Straße leben müsse daher keiner, heißt es beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Massive Wohnungsknappheit verschärft dagegen die Probleme der Obdachlosen in der britischen Hauptstadt. „Nicht einmal Londoner finden eine akzeptable Wohnung“, sagt Dany Daly. Selbst Lehrer und Polizisten mit regelmäßigen Einkommen würden keine bezahlbare Bleibe finden. Daly ist der Finanzmanager der Obdachloseneinrichtung Emmaus in London. Die weltweit tätige Organisation bietet im Süden der britischen Hauptstadt 27 jungen Männern und Frauen einen Schlafplatz. Tagsüber arbeiten sie im Haus oder in einem der Sozialshops, in denen man für wenig Geld gebrauchte Waren kaufen kann.
Nach Ansicht von Experten gibt es auf der Insel nicht genug von solchen Einrichtungen. „Es gibt zwar noch Hostels, aber das ist wirklich nur ein Schlafplatz“, Emmaus-Chef Jamie Hayes. Ob sich die Bewohner am nächsten Tag doch wieder Drogen einwerfe, sei dort unwichtig. Hostels böten nicht die Möglichkeit, dort auch tagsüber zu arbeiten und einen geregelten Tagesablauf zu haben wie bei Emmaus.
Das Risiko, dass gerade Menschen mit Drogen- und mit Alkoholproblemen in die Obdachlosigkeit rutschen können, wird nach Ansicht von Fachleuten durch eine Gesetzesänderung beim Wohngeld erhöht. Menschen mit geringem Einkommen haben auf der Insel ein Anspruch auf solche Hilfen.
Doch im vergangenen Jahr entschied die Regierung, das Wohngeld direkt an den Mieter statt an den Vermieter zu überweisen. „Dies war einer der schlechtesten Ideen, die die Regierung hatte“, sagt Daly. Denn die Mieter würden das Geld in der Regel für alles Mögliche ausgeben, aber nicht für ein Dach überm Kopf.
Bei Richard, einem 33-jährigen Londoner, ging das Geld für Drogen drauf. Mit 23 Jahren fängt Richard mit Kokain an. Mit 25 kommt der Entzug, wieder Kokain. Bis zum Heroin ist der Weg nicht lang. Kurze Zeit später werfen Richards Eltern ihn aus ihrer Wohnung raus.
Er lebt ein paar Monate auf der Straße, dann bei Freunden. Die werfen ihn irgendwann auch raus. Er lebt ein paar Monate auf der Straße, findet neue Bekannte, nimmt mehr Drogen. Dann kommt sein Bruder ins Krankenhaus, er besinnt sich. Findet sogar eine Wohnung. Doch kurz nach dem kalten Entzug gibt er seine staatliche Stütze wieder für Drogen aus – er spritzt sich Heroin. Verliert seine Wohnung und damit auch sein Wohngeld.
Auch in Deutschland geht Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe erst an den Empfänger. Wenn sich der Vermieter jedoch beim Sozialamt darüber beschwert, dass die Miete nicht pünktlich bezahlt wird, dann wird das Geld direkt an den Vermieter überwiesen.
Dem Versuch des Londoner Bürgermeisters Khan, die Zahl der Obdachlosen zu reduzieren, sich schon eine ganze Reihe ähnlicher Projekte vorausgegangen. Von Kampagnen mit dem Slogan wie „Beenden wir Obdachlosigkeit“ oder „Keine zweite Nacht auf der Straße“.
Neues Ziel: „Sich einfach besser fühlen“
Irgendwann hätten die Politiker festgestellt, dass sich das Problem aber so einfach nicht lösen lasse, sagt Emmaus-Chef James Hayes. Stattdessen würden immer wieder Obdachlosenheime schließen, weil die staatliche Unterstützung für solche Organisationen gekürzt wurde. So wie am Anfang dieses Jahres im Stadtteil Soho. Eines der größten Obdachlosenheime, in dem 120 Menschen Platz fanden, musste dichtmachen.
Aus den Organisationen kommen vor allem Forderungen nach besserer Unterstützung für die vielen abhängigen und psychisch erkrankten Obdachlosen. Zwar gibt es auch psychische Hilfe für Obdachlose, die man auch beantragen kann, wenn man nicht zu den staatlichen Notfällen gehört, jedoch sind die Wartezeit zu lang. „Wenn jemand in einer wirklich heiklen Situation ist, dann kann er nicht drei Monate auf einen Therapieplatz warten“, sagt Hayes.
Auch Andy O’Dwyer, der in einer Küche für Obdachlose im Westen Londons arbeitet, plädiert vor allem für mehr Hilfe für psychisch Kranke: „Diese Menschen werden von der Gesellschaft vergessen“, sagt. „Hier in London ist das ein Weg in die Obdachlosigkeit.“ Der Weg raus sei deutlich schwerer. Rund 80 Prozent der Obdachlosen haben laut der Hilfsorganisation „Homeless Link“ psychische Probleme.
Richard hat die aus eigener Kraft hinter sich gelassen. „Ich konnte meiner Mutter irgendwann nicht mehr in die Augen schauen und das konnte ich nicht ertragen“, erzählt er. Er begann einen kalten Entzug und schaffte es von den Drogen loszukommen. Er fand einen Job als Bauarbeiter und wohnt heute in einer Wohngemeinschaft.
Bob hat inzwischen die Parkbank gegen eine Couch bei einem Freund eingetauscht. Wenn man ihn nach seinen Wünschen fragt, überlegt er lange. „Sich einfach besser fühlen“, sagt er irgendwann. Wie sich das erfüllen soll, weiß er aber noch nicht.