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Kampf um Gerechtigkeit

Aktivisten, Angehörige und Freunde von Menschen, während der Diktatur verschwanden, am Jahrestag des Putsches, dem 11. September in Valparaiso (2009) Foto: REUTERS/Eliseo Fernandez

Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Beatriz Bataszew wird am 12. Dezember 1974 in die "Venda Sexy" gebracht. "Venda" heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kommen und sexuell missbraucht werden. Das Haus wird auch "La Discoteca" genannt, weil immer laute Musik läuft, um die Schreie aus dem Folterkeller zu übertönen. Bataszew ist 20 Jahre alt, Studentin und Mitglied der Bewegung der revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR). Alle MIR-Mitglieder werden vom Geheimdienst Dina (Dirección de Inteligencia Nacional) beobachtet und verfolgt. Sie sind Gegner der Militärregierung Augusto Pinochets, die seit dem 11. September 1973 an der Macht ist. An diesem Tag starb der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende.

Mehr als 40 Jahre später kämpft Beatriz Bataszew noch immer um Gerechtigkeit für sich und andere ehemalige Gefangene der Diktatur. Sie zündet sich eine Zigarette an, wenn sie am Filter angelangt ist, holt sie schon die nächste aus der Packung. "Aus Selbstschutz erzähle ich diesen Teil nicht in Details. Aber ich unterscheide zwischen zwei Dingen: Folter und politischer sexueller Gewalt. Die Folter hat mit physischer Gewalt zu tun wie Schlägen zum Beispiel. Die politische sexuelle Gewalt hat mit der Verletzung unserer körperlichen und sexuellen Integrität zu tun, aus dem Grund, dass wir Frauen sind. Da ist die Vergewaltigung, die Einführung von Gegenständen oder der Missbrauch mit Tieren. Es gab ein Tier, das darauf trainiert wurde, Frauen zu vergewaltigen", sagt Beatriz mit ihrer rauchigen Stimme und macht eine Pause.

Das Tier, von dem sie spricht, war ein deutscher Schäferhund namens Volodia. Seine Trainerin war Ingrid Olderock, von den Gefangenen auch die Hundefrau genannt. Sie war die Tochter deutscher Einwanderer mit Nazivergangenheit. 1981 überlebte sie ein Attentat von MIR-Mitgliedern. Im Jahr 2001 starb sie eines natürlichen Todes, ohne dass sie je vor Gericht gestellt worden wäre. "Diese Frau war eine Tochter des Patriarchats. Sie wollte genauso grausam sein wie die Männer, um Ansehen von ihnen zu erhalten. Ich wurde auch von dem Hund vergewaltigt", sagt sie. Als die Frauen merkten, dass die Folterer sie weniger vergewaltigen, wenn sie ihre Menstruation hatten, entwickelten sie eine Strategie. Diejenige, die gerade menstruierte, hinterließ ein Tuch mit Blut im Badezimmer, und die nächste legte es sich in die Unterhose.

Die Frauen wurden unter Folter und Vergewaltigung ausgefragt. Sie sollten die Namen von MIR-Mitgliedern nennen, von Freundinnen und Freunden also. Aber Bataszew schwieg. "Wir Frauen mussten bestraft werden, weil wir uns dazu entschieden hatten, politisch aktiv zu sein und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Sie wollten uns zurück in den privaten Raum manövrieren, wo man sich um den Haushalt und die Kinder kümmert. Wir waren kämpferische Frauen, die sich für den Aufbau des Sozialismus engagierten", hebt sie hervor.

Ungefähr 85 Frauen und Männer wurden in der "Venda Sexy" gefoltert und missbraucht. Die Zahl ist eine Schätzung, denn viele wissen nicht, ob sie tatsächlich dort waren, da sie fast immer mit verbundenen Augen transportiert wurden. Die meisten von ihnen waren Mitglieder des MIR. Auch Dagoberto San Martín, der Freund von Beatriz Bataszew, war dort gefangen. Sie hat ihn danach nie wiedergesehen. Er verschwand wie mehr als 1.000 andere Gefangene der chilenischen Militärdiktatur spurlos.

Mehr als 30.000 Menschen wurden während der chilenischen Militärdiktatur festgenommen und gefoltert, über 3.000 von ihnen wurden ermordet. Präsidentin Michelle Bachelet bemüht sich um die Aufarbeitung der blutigen Epoche. Aber der Schatten der Diktatur ist lang. Mehr als 25 Jahre nach deren Ende sind immer noch viele Täter auf freiem Fuß. Amnestiegesetze aus der Pinochet-Zeit, die weitgehende Straffreiheit garantieren, verhinderten lange die Verurteilung. Da die sexuelle politische Gewalt bis heute von der Regierung nicht als Straftat anerkannt wird, kann auch niemand deswegen verurteilt werden.

Die Frauen, die Folter und sexuelle Gewalt überlebt haben, sind bis heute beste Freundinnen. Einige gründeten im Jahr 2013 das Kollektiv "Mujeres Sobrevivientes Siempre Resistentes" ("Überlebende Frauen, die Widerstand leisten"). "Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass es sich bei dem, was wir überlebt haben, nicht um irgendeine Form von Gewalt handelt. Da geht es um Macht, die unseren Körpern aufgedrängt wurde." Das Kollektiv hat aktuell 15 Mitglieder, einige von ihnen sind Überlebende der Diktatur, aber auch junge Frauen sind dabei. "Eines der fundamentalen Elemente des Kollektivs ist zu verstehen, dass wir Frauen Erbinnen des Kampfs anderer Frauen sind", erinnert Bataszew und fügt hinzu: "Wie zum Beispiel des Kampfes für das Wahlrecht. Deswegen müssen wir auch die politische sexuelle Gewalt sichtbar machen. Denn sie existiert auch noch heute: Jedesmal, wenn eine junge kämpferische Frau der Studentenbewegung verhaftet wird, ausgezogen wird und die Polizisten ihre Penisse über ihren nackten Körper streichen. Und das passiert. Das ist eine Politik des Staates, der gegen Frauen vorgeht, die einen strukturellen sozialen Wandel wollen."

Viele Frauen, die in der "Venda Sexy" gefoltert und vergewaltigt wurden, sind bis heute traumatisiert. "Ich hatte das Glück, kurz nach meiner Freilassung jemanden kennenzulernen: den Feminismus", sagt Beatriz Bataszew. "Und der hat mir erlaubt, alle meine Schmerzen in den öffentlichen Raum und in die Politik zu bringen und sie in eine Aktion gegen das Patriarchat und seine Gewalt umzuwandeln. Das hat mich geheilt."

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