Ohne den geringsten Hauch eines Zweifels wage ich zu sagen, dass die Relevanz, die
man dem Ziel einer Reise beimisst, beinahe von der Bedeutung ihres Ausgangsortes
überholt wird.
Letztendlich definiert die Diskrepanz zwischen diesen beiden Räumen die Faszination des
Reisens.
Wie metaphorische Komplementärfarben ist es manchmal nicht etwa das eine oder das
andere, sondern der Kontrast, den sie bilden.
Zweifellos werden Reisen unternommen, um sicherzustellen, dass der gewählte Zielort
gewisse Erwartungen erfüllt und dir erlaubt, durch eine unbekannte Kultur zu schwimmen,
ständig mit dem etwas euphorischen Bewusstsein gefüllt, dass das Leben an Wert und
Tiefe gewinnt.
Trotzdem kann die Wahrnehmung durch den Ort, an dem die Reise begonnen wird,
voreingenommen sein.
Warum? Denn vermeintlich belanglose Faktoren wie die Wetterbedingungen während des
Packens, der letzte Zwischenstopp an der Stammbäckerei zwecks Proviant, oder der
herbe Geruch des Rasierwassers deines Nachbarns, von dem du dich mit einer flüchtigen
Umarmung verabschiedet hast, – all diese Marginalien formen die Wahrnehmung.
Nachdem ich „Island besuchen" bereits geraume Zeit auf meiner obligatorischen To-Do-
Liste stehen gehabt hatte, und insbesondere, seit die Turbulenzen des arabischen
Frühlings mich voller Erschöpfung und Sehnsucht nach Ruhe zurückgelassen hatten, traf
ich in einem Anflug von blitzartiger Entscheidungsfreudigkeit zu der Art Selbstversuch,
mein Reiseziel von extremen Umständen zu umhüllen.
So buchte ich Flüge und bettete Island ein in die Reminiszenzen einer der vergleichsweise
impusivsten, widersprüchlichsten Großstädte des Nahen Ostens und fand mich
wahnsinnig kosmopolitisch.
Ich konnte ja auch nicht so richtig ahnen, dass mir eine holprige Vulkaninsel
Bescheidenheit beibringen sollte.
Carl hat gerade aus lauter Eile meinen Kaffee auf den Teppich geschüttet.
„Ah Putain!! T’es prête là? Vite, vite, on y va!"
Ich verabscheue diesen plötzlichen Druck, unter dem ich Beirut so rasch verlassen soll,
und außerdem wie entfernt man Kaffeeflecken aus einem persischen Teppich!?,
der scheiß Aufzug hängt schon wieder in der 12ten Etage fest und Mila streitet sich unten
lautstark mit dem Taxifahrer, der mitten auf der Straße wartet.
Der Verkehr ist absurd.
Mit geschlossenen Augen möchte ich das temperamentvolle libanesischen Hupen
ausblenden, scheitere aber daran und sage mir wieder und wieder, dass das alles Teil der
experience ist.
Die Spannung unserer hastigen Fahrt zum Flughafen verschwindet, als man Rotwein an
Bord serviert; "Skál!", sagt die androgyne etwa 40jährige Sitznachbarin zu mir, der
während des Flugs als einer der erfolgreichsten Dirigenten Islands auf ihrem Weg "zurück
zu heima" wird.
Die Versuche, meine Bewunderung für isländische Musiker auszudrücken, werden käglich
von Bjork und Sígur Ros begrenzt, aber dennoch die Dirigentin mein dürftiges Namedropping
doch genug zu überzeugen, um mir die Adresse eines Plattenladens in Reykjavik
zu geben, in dem mir später auf Jónsis Lieblingscouch Hagebuttentee anboten werden
wird.
Als wir das Flugzeug endlich verlassen, erwarte ich auf diese pathetische Welle des
Kontrastkulturschocks, der in meiner Vorstellung über mich rollen, ebenso wie einer
gewissen Sprachlosigkeit bis zum letzten Atemzug auf dieser Insel.
Aber nichts als eisiger Wind ist, was mich begrü.t, als ich isländischen Boden betrete.
Darüber hinaus beginnen wir eine lächerliche Diskussion mit der Autovermietung wegen
eines Kindersitzes.
Erst, nachdem wir Reykjavik verlassen, um zu unserer 50 Meilen entfernten Hütte zu
gelangen, trifft es mich.
Umso mehr, wenn ich endlich aus dem Landrover steige und vor einem türkisblauen See
zwischen Vulkanen stehe, und relativ wahrscheinlich heilige Luft einatme, die die
folgenden Tage zu einem Wirbel von Eindrücken macht.
Da verschwinden die Bananenfelder in im Süden Libanons, die unter dem Rauch von
billigen Cedar-Zigaretten liegen,
die Granatapfel- und Feigenbäumen, welche die holprigen Straßen in Richtung Tibnine
säumen,
die Weinberge von Hanin neben Ziegen und Panzern und Dorfbewohnern, die sich über
das Tal hinweg anschreien, weil das Handynetz schon wieder nicht funktioniert; es geht
jedenfalls um die Hochzeit der ältesten Tochter des Metzgers.
Ich werde von einer Kulisse eingesaugt, die die ostensive Trivialität von Wasser und
Steinen glänzend einfängt und sie in etwas verwandelt, das surreal, und verletzlich und
Off-Beat und eindringlich zugleich scheint;
Eine Sphäre mit ihrem eigenen Existenzbegriff von Nebelwolken;
Eine nie dagewesene Art der Folklore unter allen möglichen Epochen,
kombiniert mit Flora und Fauna von einem anderen Planeten.
Gleichzeitig stellt sich Island als unendliche Leere vor;
Ich habe noch nie so viel Nichts gesehen und fahre stundenlang mit dem Auto, ohne
jemanden zu sehen oder zu hören.
Anstelle vom libanesischen Lärm, eine stumpfe Taubheit.
„Space is only noise.“
Da ist er ja, der Pathos.
Als wir einige Wochen später durch Kairo rasen, begleitet vom altbekanntem Gehupe und
Gekreische und begleitet von Fairuz im Radio, werde ich versuchen, den Prozess der
Wiedereingliederung in diese Welt von Geschwindigkeit, Ton und Licht zu verstehen.
Ich werde an Island als ein in sich geschlossenes Universum denken und erkennen, dass
mich manchmal glücklicherweise Antworten auf Fragen finden, von denen ich nicht
wusste, dass ich sie überhaupt gestellt hatte.
Proportional gesagt, je mannigfaltiger die Stationen von Abfahrt und Ankunft zu sein
scheinen, desto größer ist die Überwältigung, wenn man den Kolorit der Reise per se
tatsächlich ein bisschen begreift.