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Reportage spécial

Im Portrait: Tim Yilmaz

Einen, der sich hauptberuflich mit geochemischen Vorgängen, Grundlagen der Mineralogie und Gesteinslehre auseinandersetzt und sich nach seinem Doktortitel auf tektonische Veränderungen spezialisiert hat, stellt man sich nicht zwangsläufig automatisch im Boxring vor. Noch viel weniger vielleicht als jemanden, der ehrenamtlich Jugendliche mit Fluchthintergrund trainiert und Frauen per se für das stärkere Geschlecht und die größeren Performer hält.

Umso einleuchtender werden jedoch exakt diese Zusammenhänge, wenn der Vulkanologe Tim Yilmaz veranschaulicht, dass es beim Boxen eben nicht darum geht, jemandem aggressiv die Fresse zu polieren oder etwa den Gegner, wie beim Judo, mit geringstem Aufwand zu Fall zu bringen, indem er dazu verleitet wird, die eigenen Kräfte gegen sich zu wenden. Der Boxkampf an sich strahlt eine Dynamik aus, die vom gegenseitigen Respekt, ausgeprägter Kondition und der eigenen Körperspannung getragen wird, und nicht zuletzt dem Bewusstsein über die physikalische Beschaffenheit des menschlichen Organismus. Da sind Kenntnisse um die Petrologie mitnichten fehl am Platz.

Seine eigene Box-Karriere trieb Tim Yilmaz erst ab der Volljährigkeit voran, gemeinsam
mit Milen Till, nachdem er seine Position als Handball-Torwart aufgeben musste und die Energie brach im Raum lag. Zunächst trainiert von Kai Melder im MTV, mit dem er bis heute sowohl freundschaftlich als auch professionell verbunden ist, fand er schnell Begeisterung für eine Disziplin, die lange als Unterschichten-Sportart galt – für Kids, die sich Tennis und Gold nicht leisten konnten. Nicht erst Muhammad Ali setzte als Ikone der Emanzipationsbewegung der Afroamerikaner und Vietnam-Wehrdienstverweigerer in der Sportwelt politische Akzente, und so geht mit dem Boxen die Philosophie einher, dass die Fähigkeit, einen Konflikt anständig auszutragen, nicht im Ring bleiben muss.

Der erste Impuls, jungen Geflüchteten zwischen 13 und 18 das Boxen beizubringen, ist für Tim Yilmaz ein ganz simpler: der wichtigste Aspekt der Integration ist seiner Meinung nach eine schnelle Heranführung an einen Alltag, ein völlig normales Leben mit gleichaltrigen Freunden, die gemeinsam lernen, feiern und sich austoben können. Sein Vorhaben, eine Gruppe zu trainieren, sprengte rasch alle Rahmen: statt der erwarteten sechs, sieben Schützlinge kamen auf einen Schlag um die dreißig Jugendliche, die sich teilweise kaum verständigen konnten – trotz allerlei Dolmetscher. So reihte sich an die neu erlernten sportlichen Fähigkeiten automatisch ein inkludierter Deutschunterricht, der den Jungs soweit Körperteile, Bewegungen und Abläufe erklärte, dass sie sich nach zehn Wochen am normalen Sportbetrieb in andere Team eingliedern konnten.

Das Boxen sei aus dem Grund ideal für die Integration junger Männer, da das Herumsitzen in Gemeinschaftsunterkünften kompensiert werde, und die aus Krisengebieten und traumatischen Fluchtsituation mitgebrachte Energie ein Ventil finden könne, so Tim. Im liege besonders am Herzen, das pädagogische Fördern mit dem sportlichen Fordern zu verbinden und Berührungsängste abzubauen. Anders als in einer Mannschaftssportart wie Fußball baut der Kampf gegen einen einzigen Gegner im Sparring den Respekt auf, den du auch vor dir selbst haben musst. Zur Übungseinheit zählen auch Ausdauer und Koordination, ein ganzheitliches Training eben, und „wenn die Jungs zu spät kommen, schicke ich sie halt wieder heim. Sie sollen auch Pünktlichkeit lernen, und Zuverlässigkeit.“

Der 38jährige empfindet es als größten Erfolg, wenn ihm die Jungs auch Monate und Jahre später noch mit verbindlicher Dankbarkeit gegenüber ihm als Trainer und Lehrer begegnen.

Ob er nun auf dem vulkanischen Fuji oder Aso in Japan Gesteinsproben nimmt, um tektonische Veränderungen zu untersuchen, oder jungen Menschen die körperliche Auseinandersetzung mit der eigenen Stärke und dem Respekt vor dem Gegner beibringt – Tim Yilmaz scheint ein Meister des schleichenden Prozesses, des sanften Neubeginns und der koordinierten Veränderung zum Besseren zu sein. 




Erschienen im MixMuc Magazin, 2017