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Overtourism: Amsterdam macht Ernst

Als erste Stadt weltweit hat Amsterdam eine Obergrenze für touristische Übernachtungen erlassen – aber gleichzeitig auch eine Untergrenze. Die Maßnahme ist eine verzweifelte Antwort auf ein Phänomen, dem man mit anderen Taktiken nicht Herr geworden ist und das immer mehr europäische Metropolen betrifft: Overtourism.

Overtourism ist als Schlagwort in aller Munde – selbst die Covid-Pandemie konnte dem nur eine kurze Unterbrechung abringen. Dabei ist die Bedeutung wesentlich umfangreicher, sind die Folgen weitaus schwerwiegender, als man bei der bloßen Definition eines „Zuviels an Touristen“ vermuten würde. Dass zu viele Besucher, egal ob freundlich-zurückhaltend oder rücksichtslos neugierig, die Nerven vieler Anwohner strapazieren können – dieser Zusammenhang ist schnell hergestellt. Doch es geht um weitaus mehr als Lärm, Müll und Menschenmassen. Etliche beklagen die „Verramschung des öffentlichen Raums“, wenn die Art der Geschäfte nur noch auf die (vermeintlichen) Bedürfnisse der Touristen ausgerichtet sind, also der 140. Laden Souvenirs verkauft. In Amsterdam sind vor allem die Rotlicht- und Cannabis-Touristen ein Problem, deren Anreisegründe sich nicht unbedingt mit dem Lebensstil der Anwohner vertragen. Zuvorderst aber entleert Overtourism systematisch die Innenstädte, die in Teilen nur noch als Freiluft-Museum für Besucher existieren; die ursprünglichen Anwohner sind längst geflüchtet. Wieso das?

Jede 15. private Wohnung in Amsterdam wird an Touristen vermietet. Pro Monat wurden vor der Covid-Ära 25.000 Übernachtungen im Netz gebucht, allen voran über den Anbieter Airbnb. Dieser ist mit dem Gedanken der Sharing Economy groß geworden – der Kosmopolit teilt sein Weltherz – und hüllt sich nach wie vor in dieses Gewand, obwohl unter den Profiteuren nicht wenige gerissene Immobilienhaie sind, die Wohnungen in beliebten Innenstädten aufkaufen und sie teuer weitervermieten.

Eine Studie der Universitat Autònoma in Barcelona hat errechnet, dass in der spanischen Stadt 7% der Mietsteigerungen Airbnb zu verdanken sind. Geschätzt sind es weitaus mehr Bewohner, die sich die Mieten in den Innenstädten nicht mehr leisten können und dadurch an den Rand der Stadt verdrängt werden. Ganz abgesehen davon hat sich die Infrastruktur inzwischen so den Touristen angepasst, dass zwar an allen Ecken Amsterdams Käse und Tulpen erstanden werden können, nicht aber die nötigen Lebensmittel für den täglichen Bedarf. Spät ankommende Besucher mit ihren Rollkoffern auf Kopfsteinpflaster und Junggesellenabschiede mit Touren durch die Coffee Shops tun ihr Übriges, um den Einheimischen ihre eigene Stadt zu verleiden.

Dass dagegen dringend etwas unternommen werden muss, hat man schon vor Jahren erkannt. Zu den ersten Versuchen gehörte ein juristisch heikles Verbot von Airbnb-Übernachtungen – das letztendlich aber nicht kontrolliert, ergo auch nicht durchgesetzt werden konnte. Heute ist Airbnb in drei Stadtteilen offiziell verboten. In den restlichen Vierteln dürfen private Anbieter an bis zu 30 Tagen im Jahr an vier verschiedene Personen vermieten. Wirklich kontrolliert werden kann aber auch das nicht.

Weiters wurde die Anzahl der Stadtführungen im Zentrum eingedämmt; im Rotlichtviertel hat man sie ganz verboten. Auch Läden mit reinen Touristen-Produkten (sprich Souvenir-Ramsch) sind nicht mehr erlaubt. Ab 22 Uhr existiert ein Verkaufsverbot für Alkohol; für lärmende und flegelhafte Handlungen (z.B. Urinieren in den nächstgelegenen Garten) drohen hohe Strafen bis 20.000 Euro. Die Polizei wird von so genannten „Hosts“ bei der Überwachung unterstützt. Das alles ist notwendig geworden in einer Stadt, die für ihre Toleranz bekannt ist.

2019 brachte eine Petition von Anwohnern wieder Bewegung in das Thema. Sie forderte eine Obergrenze von 12 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Zur Veranschaulichung: 2005 waren noch 11 Millionen Gäste nach Amsterdam gekommen, 2019 waren es schon doppelt so viele: 22 Millionen Touristen jährlich auf nicht einmal 880.000 Einwohner. Das ist zwar nicht ganz so schlimm wie in Venedig (20 Millionen Touristen auf 60.000 Einwohner), aber dennoch alarmierend, weil die Stimmung in der Bevölkerung bereits gekippt ist. Den wenigen, meist ausländischen Investoren, die von den nimmer zu versiegen scheinenden Touristenmassen profitieren, stehen eine Vielzahl an Bewohnern gegenüber, die von den vielen Besuchern nur eines haben: Ärger und finanzielle Mehrbelastungen.

Nun hat man die Beschränkung der Übernachtungszahlen tatsächlich beschlossen – allerdings wurde die geforderte Höchstgrenze ironischerweise zur Untergrenze gemacht. Sprich, die Stadt toleriert Übernachtungszahlen zwischen 10 und 20 Millionen pro Jahr. Sinken die Zahlen auf 12 bzw. steigen sie auf 18 Millionen, treten zusätzliche Maßnahmen in Kraft. Diese sind nicht weiter definiert, doch liegt ein umfangreicher Vorschlagskatalog vor. Potenzielle Konsequenzen können dann sein: Verbot von Junggesellenabschieden, Einführung einer Touristensteuer oder Verbot von privater Vermietung (mit bereits erwähnten Hürden). Das kürzlich angekündigte Coffee-Shop-Verbot für nicht im Inland Ansässige hat man auf unbestimmte Zeit verschoben, obwohl die Stadt immer wieder beteuert, weg vom Rotlicht- und Cannabis-Tourismus kommen zu wollen. Immerhin gaben bei einer Befragung im Rotlichtviertel 57% zu, des Drogenkonsums wegen nach Amsterdam gekommen zu sein. Offizielle Statistiken geben bei 23% aller Touristen die Coffee Shops als Hauptreisegrund an. Immerhin die Angebote im Rotlichtviertel will man sukzessive an den Stadtrand verlagern.

Wie nun kann eine Lösung aussehen? Nicht nur Amsterdam strebt eine Entzerrung der Hotspots an. Die Grenzen der für Touristen interessanten Innenstadt, auf die sich vieles konzentriert, sollen ausgedehnt werden, um die Besucher besser zu verteilen. Der Typ des „New Urban Tourist“ kommt diesem Ansinnen sehr entgegen: Viele junge und junggebliebene Menschen sind ohnehin auf der Suche nach einem authentischen Stadterlebnis abseits der „Touri-Highlights“. Dazu gehören auch Begegnungen mit Einheimischen, die an anderen Orten anzutreffen sind als das Gros der Besucher.

Genau darauf zielen einige Programme zur Besucherlenkung ab, wie es Dänemark mit „Meet the Danish“ (Einheimische laden Besucher zu sich nach Hause ein) oder Island mit den „Stopover Buddies“ (eine Aktion von Iceland Air, um Touristen auch weniger bekannte Seiten des Landes nahe zu bringen) vorgemacht haben. Ein Tropfen auf den heißen Stein oder eine echte Chance?

Das wird nicht allein vom Geschick eines Stadtmarketings abhängen. Denn selbst wenn Zandvoort jetzt unter „Amsterdam Beach“ beworben oder Amstelveen als „Amsterdam Forest“ bezeichnet wird, sind es vor allem die Besucher selbst, die viel dazu beitragen können, dass sich die Lage entspannt. Wer Wert auf authentische Begegnungen legt und ein wenig Abenteuergeist mitbringt, nutzt ohnehin Couchsurfing. Dem Rest sei eine charmante Frühstückspension statt einem Airbnb-Aufenthalt empfohlen – auch hier finden (anders als in anonymen Hotelketten) echte Begegnungen statt und man bekommt Einblick in einen Lebensstil, der weitaus mehr über eine Kultur verrät als der Reiseführer.

Nachdem Amsterdam mit mehr Fahrrädern als Einwohnern die unumstrittene Weltfahrradhauptstadt ist, sollte man es den Bewohnern einfach gleichtun und die vielen schmucken Grachten und Brücken mit den Drahtesel erkunden. Ab 10 Euro pro Tag sind Hollandräder zu bekommen; in der Innenstadt hat man als Radfahrer so gut wie überall Vorrang und 500 Kilometer stehen als Radweg zur Verfügung. Auch damit erweitert man seinen Radius, bewegt sich schnell über die Hotspots hinaus und traut sich, neue Routen zu erkunden: Man ist ja schnell wieder zurück. Und nicht zuletzt empfiehlt es sich im eigenen Interesse, anti-saisonal zu reisen. Wer kann, meidet Ferienzeiten und kommt in besucherschwachen Monaten wie dem November. Bleibt länger an einem Ort, anstatt eine Bucket List hektisch abzuarbeiten. Und besorgt sich einen Reiseführer, der noch mehr zu bieten hat als die touristischen Top Ten einer Stadt.