Er wurde als Teenager vom vielversprechenden Nachwuchs-Fußballer zum jungen Mann mit nur einem Bein. Heute ist er gefeierter Para-Athlet und inspiriert nicht nur andere SportlerInnen, sondern hinterfragt Inklusion in unserer Gesellschaft.
Manchmal zerplatzen Träume direkt vor unseren Augen. Einfach so. Ersatzlos gestrichen. Ciao. Das wars. See you never. Das kann man dann sicherlich so hinnehmen. Oder aber man kämpft sich durch die Dunkelheit und zündet nicht nur die Lichter im eigenen Leben ganz neu an, sondern sprüht so viele Funken, dass sie auch für andere reichen. So wie Léon Schäfer.
2010 gilt Léon nicht ohne Grund als vielversprechender Fußball-Nachwuchs. Er spielt gut, ist talentiert und entschlossen. Die Talentschmiede des DFB wird auf ihn aufmerksam, ihm werden gute Chancen als angehender Profi attestiert, alles ist super. Dann wird bei ihm Knochenkrebs diagnostiziert, ein halbes Jahr nach dem Befund amputiert man dem damals 13-Jährigen den rechten Unterschenkel samt Knie.
Mal eben eine Runde joggen ist jetzt nicht mehr einfach so drin – schlimm genug. Für jemanden, dem aber ernsthaft die Karriere als Profi-Sportler gewunken hatte, heißt das noch viel mehr: Léon verabschiedet sich von einem ganzen Lebensentwurf. Ein solcher Einschnitt in die eigene Biografie und mögliche Zukunft dürfte so ziemlich jedem ordentlich den Boden unter den Füßen wegreißen. Aber diese Haltung würde nicht zu dem jungen Sportler passen – Léons Meinung nach sollte man aus der eigenen Situation immer das bestmögliche herausholen. Oder anders gesagt: Da er ja sowieso nur noch einen Fuß besitzt, und die Sache mit dem Boden unter ihm sich somit auch grundlegend verändert hat, kann er auch gleich nach den Sternen greifen!
Léon lernt mit einer Prothese zu gehen, zu laufen, zu sprinten. Er fällt hin, steht auf. Gehen funktioniert, laufen noch nicht so. Sein Ehrgeiz ist geweckt, er fällt seltener hin, er wird schneller. Nur drei Jahre nach seiner Amputation hält der gebürtige Hannoveraner den Junioren-Weltrekord im Hochsprung. Im nächsten Jahr wird er zu den Paralympics nach Tokyo reisen. Nach seinem vierten Platz im Weitsprung in Rio 2016 ist sein Ziel nun eine Medaille.
Im Prinzip hat der Sport Léon gerettet – oder ist es anders herum? Hat Léon den Sport genutzt, um sich selbst zu retten? Das klingt eigentlich nach mehr Pathos, als dem heute 22-Jährigen gerecht wird. Léon besitzt nämlich eine unnachahmliche Leichtigkeit, mit Dingen umzugehen. Dabei arbeitet er verdammt hart, fokussiert und wahnsinnig diszipliniert, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Aber für ihn ist ein Hindernis, egal wie groß, eben einfach kein Grund, ans Aufgeben zu denken, sondern die gestellte Frage nach einer neuen Lösung.
Léons Tun hat Wirkung: Er inspiriert nicht nur junge SportlerInnen, er ist nicht nur Vorbild für Menschen mit Behinderung – seine Stärke, sein eiserner Wille und seine geistige Kraft dürften jeden Menschen rund um den Erdball beeindrucken. Damit arbeitet Léon fast nebenher an einem ganz neuen Verständnis von Inklusion. Die Paralympics, wie wir sie kennen, gibt es im Prinzip erst seit 1964. Seit 1988 steht der Begriff "Paralympics" vollständig fest, es wurde damals auch bestimmt, dass sich die Vorsilbe "Para" vom lateinischen Begriff für "neben" ableitet. Nebeneinander laufen die Paralympischen und die Olympischen Spiele aber noch lange nicht ab. Eindeutigstes Indiz: Das mediale Interesse gilt vornehmlich der Olympiade. Doch das ändert sich gerade – auch dank einer ganz neuen, progressiven Generation an Para-Athleten.
Felix Streng, 24, trainiert wie Léon im TSV Bayer Leverkusen. Auch er ist Para-Athlet und weiß um die Verantwortung, die er und seine Sportlerkollegen haben: "Wir arbeiten an einer besseren Zukunft. Wir wollen zeigen, dass die Qualität unseres Sports genauso hoch ist, wie die von allen anderen. Wir arbeiten hart für mehr Respekt und Akzeptanz," erklärt der Sportler. Vom Sprint direkt in die Köpfe der Gesellschaft? Durchaus! Was Felix beschreibt und was Léon vorlebt, ist eine neue Art der Normalität. Eine, die Grenzen nicht nur abschaffen, sondern gar nicht erst mitzudenken versucht. "Erst wenn wir nicht mehr darüber diskutieren, dass wir Mauern einreißen müssen, dann haben wir es geschafft," sagt er.
Leistungen, Wettkampf, Medaillen, Gewinne – auch das ist Teil der Welt eines Profisportlers. Aber an Léons Werdegang sieht man genau, dass das nie sein Beweggrund war. Vielmehr ging es ihm immer darum, Herausforderungen zu meistern, weiter zu kommen und sich durch nichts aufhalten zu lassen. Ein Spirit, den er in die Welt trägt. Für Fünfkämpfer Pelé Uibel, 19, macht das einen Helden aus: "Es gibt Spitzensportler, die gewinnen im Wettkampf. Und es gibt Spitzensportler, die gewinnen im Wettkampf und erheben ihre Stimme, stehen für Dinge ein und sind dadurch Vorbilder."
Natürlich hat der damals 13-jährige Junge, der plötzlich um einen Traum ärmer, dafür um einen ungewohnten Fremdkörper am Bein reicher war, für sich selbst gekämpft. Natürlich hat er die Hürden genommen, weil er an seine eigenen Ziele glaubte. Natürlich hat er an sich gearbeitet, um dort anzukommen, wo er heute ist. Aber sein eigener Weg ist längst der Weg von Vielen geworden. Jeder seiner Schritte, seiner Sprints, seiner Sprünge, seiner harten Arbeit für den verdienten Respekt ist auch Teil unserer Schritte auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Wortes "Inklusion", der uns alle angeht. Vielleicht landen wir dank Helden wie Léon Schäfer bald endlich beim Kern des Wortes "Inklusion": Nämlich dabei, Menschen bedingungslos teilhaben zu lassen – ganz egal, wo sie herkommen, wie sie beschaffen sind und was sie ausmacht. Dann können wir endlich aufhören, über "Normalität" zu sprechen, sondern mit neu gewonnener Gemeinschaft anfangen, die alle inkludiert. Denn wenn wir eines von Léon gelernt haben, dann, dass wir niemals etwas nur für uns selbst machen.