Nora und Fabian wollen eine Familie gründen. Kurz vor der Hochzeit sagt Nora, ich möchte Daniel heißen. Und fragt: Ob sie trotzdem heiraten? Eine Geschichte über die große Liebe und darüber wie es ist, gleichzeitig Mutter und Vater zu werden
Daniel M. hält seinen Sohn im Arm und lässt ihn an seiner Brust saugen. An dieser viel zu großen, mit Milch gefüllten Brust, die er am liebsten verstecken würde. Die er gern loswürde. Durchs Fenster strahlt die Sonne und zeichnet mit ihrem hellen Licht alle Gegenstände im Zimmer ganz weich, die Couch, den Tisch, das Babyspielzeug. M., ein kleiner, schmaler Mann, hat das T-Shirt hochgezogen, man sieht die karierten Boxershorts unter seiner weiten Jeans. Jonte, drei Monate alt, nuckelt an der Brust. M. sieht ihm zu und lächelt. Ein Mann und sein Baby.
Ein Mann, der, bevor er endgültig einer wird, noch einmal richtig Frau sein muss. Für sein Kind.
Daniel M., am 9. November 1983 als Nora Leota S. in einem Dorf in Niedersachsen geboren, als Junge in einem Mädchenkörper, wie er früh ahnt, lebt heute als Transmann. Seit 17 Jahren ist Daniel M. mit seinem Mann Fabian zusammen, einem Schulkameraden, elf Jahre davon war er dessen Freundin. Sie studierten Psychologie und Geschichte, ein Paar wie eine Million andere. Erst kurz vor der Hochzeit offenbarte Daniel sich Fabian: Er wolle als Mann leben. Sie heirateten trotzdem. Und sie beschlossen, bevor Daniel auch biologisch zum Mann würde, noch ein Kind zu bekommen.
Es ist eine Entscheidung, die Grenzen sprengt und viele Fragen stellt: Wie fest steht ein Geschlecht? Was ist, wenn nicht nur eine Frau zum Mann, sondern auch eine Mutter zum Vater werden will? Kann sie das überhaupt?
"Gleich schläft mir Jonti auf dem Schoß ein", flüstert Daniel M.. Er sitzt neben der Babydecke auf dem Fußboden ihrer Souterrainwohnung in einem alten Fachwerkhaus am Rande von Lüneburg. Wald auf der einen, ein Fluss auf der anderen Seite. Die Wohnung ist klein, fast studentisch, aber es gibt ein Kinderzimmer für Jonte, dazu ein großes Wohnzimmer, Küche und Bad. Die Fensterbänke voller Blumen, Regale voller Bücher, Hesse, Brecht, Wedekind, zwei Gitarren hängen an der Wand.
"Fabian wusste immer Bescheid", sagt Daniel M.. Ein Satz, den er oft wiederholt, er scheint ihm wichtig.
Wenn Fabian M. davon erzählt, wie seine Frau gerade zu einem Mann wird, sagt er: "Es war latent da und ist immer mehr geworden, so wie wenn wir Jonti jetzt beim Wachsen zugucken. Irgendwann werden wir auch denken, der ist aber groß geworden." Er stellt Tee und Kuchen auf den Wohnzimmertisch.
Jonte soll der Beweis sein, dass Nora Leota S.s Entscheidung, zu Daniel M. zu werden, vieles infrage stellt, aber eines nicht: ihre Liebe.
Menschen, die das Gefühl haben, im falschen Körper zu leben, nennt man Transidente. In den vergangenen Jahren sind sie sichtbarer geworden. Dank Stars wie der schwarzen Schauspielerin Laverne Cox, der TV-Celebrity Caitlyn Jenner oder der Serie Transparent sind sie ins Zentrum der Popkultur gerückt. Das deutsche Model Benjamin Melzer präsentierte sich 2016 als erster Transmann auf dem Cover der Zeitschrift Men's Health - ohne Brüste, dafür mit kräftigen Bauchmuskeln.
Aber wie verändert sich die Liebe zweier Menschen, wenn einer der beiden biologisch auf dem Weg ist, ein Mann zu werden?
Wie alles begann23. Juli 1999. Fabian ist 17 Jahre alt, Nora fast 16. Die großen Ferien beginnen gerade. Überall riecht es nach Maisfeldern, das ist der Sommergeruch von Syke, der kleinen Stadt in Niedersachsen, Schlafstadt von Bremen, 25.000 Einwohner, ringsum Geestlandschaft, Wiesen und Wälder, ab und zu hört man den Kaffkieker vorbeituckern, nur jetzt am Abend fährt der Zug nicht mehr.
Das Getöse der Party, auf die sich Fabian hat mitschleppen lassen, ist wahrscheinlich der einzige Lärm, der noch zu hören ist. Er beobachtet die Leute, wie sie Bier und Korn trinken, als Nora durch die Tür tritt, langes, rot gefärbtes Haar, ein schön geformter Mund, die Figur eher knabenhaft - bis auf die Brüste.
Fabian sagt, er habe sich sofort verliebt, auf den ersten Blick, "auch wenn das so abgedroschen klingt".
Als Nora Fabian sieht, fällt ihr sein besonderes Kinn auf, das leicht nach vorn steht. Wie es wohl wäre, jemanden mit so einem Kinn zu küssen? "Völlig albern, ich weiß, aber so war es."
Fabian fragt Nora, ob sie nicht spazieren gehen wolle. Später sitzen sie am Rand des Gartens und beobachten die Partymeute, wie sie mit Deo und Feuerzeug Flammenwerfer basteln. Fabian raucht. Nora denkt: Wenn wir zusammenkommen, muss ich ihm das Rauchen abgewöhnen.
Um kurz nach Mitternacht küssen sich die beiden zum ersten Mal, 24. Juli 1999.
Eine Woche später steht Nora bei Fabian auf der Terrasse und hat ein Gefühl, als wären sie schon immer zusammen. Nach zwei Wochen sagt sie zu Fabian: "Ich beneide dich um deinen Penis. Ich finde das so toll, dass du einen hast."
"Kannst ihn ja mal halten", sagt Fabian. Er denkt sich nichts dabei.
Kurz darauf erzählt Nora Fabian von den Kopfschmerzen, die sie seit dem neunten Lebensjahr hat, von ihren depressiven Schüben und davon, dass das EEG-Gerät keinen Fehler in ihrer Gehirnaktivität finden kann. Dass sie sich aber ständig mit ihrer Mutter streitet. Fabian erzählt Nora, dass seine Mutter im Bibelkreis ist und sich über seine "freakige" Frisur ärgert. Als Nora in der elften Klasse zum Fasching als cooler Typ gehen will, leiht Fabian ihr seine Klamotten. Nora trägt Fabians Boxershorts, Fabian findet das erst mal niedlich, wie die meisten Männer bei ihrer Freundin.
Als Nora während der Abiturvorbereitung den Roman Demian von Hermann Hesse liest, wird ihr ganz schwindlig, als wolle ihr das Buch etwas sagen. Der jugendliche Protagonist fühlt sich unvollkommen, doch er gewinnt mit jedem Lebensjahr an Selbstvertrauen und findet mehr zu sich selbst. Die Lektüre geht Nora seltsam nah. Sie ist so aufgelöst, dass sie Fabian anruft. Der kommt sofort und hält sie fest im Arm, lange. Sie sagt, irgendwas sei falsch mit ihr, sie sei nicht komplett.
Nora liebt Fabian, Fabian liebt Nora
Als Nora von zu Hause auszieht, weil sie die Streitereien mit der Mutter nicht mehr erträgt, ist Fabian, so oft es geht, in ihrer kleinen Einzimmerwohnung. Den Halt, den sie in ihrer zweifelnden Teenagerexistenz suchen, finden sie beieinander.
Fürs Studium gehen sie zusammen nach Lüneburg. Fabian studiert Geschichte, Nora Psychologie. Sie bauen ihr eigenes Bücherregal, Fabian hält ein Brett, Nora bohrt Löcher hinein.
Immer häufiger führt Nora in dieser Zeit ein Videotagebuch. Als verspüre sie einen Drang, der Welt etwas mitzuteilen. Auf einem dieser Videos, im Sommer 2008, sieht man sie als Studentin, die langen Haare zum Zopf, Kreolen, Kette. Nora schiebt sich zwei weiße Pillen in den Mund. Antidepressiva. Sie spült mit einem Schluck Tee nach und beißt in eine Apfelscheibe. Wie jeden Abend. Wie ein Archivar hält Nora ihr Leben fest, filmt Eiszapfen im Winter, Freunde beim Spieleabend und immer wieder sich selbst.
An einem kalten Winterabend lernen Nora und Fabian in einer Lüneburger Bar eine Transfrau kennen. Auf dem Nachhauseweg sagt Nora plötzlich: "Was die kann, kann ich auch."
Fabian ist unsicher, was Nora meint. Wie er reagieren soll. Er weiß, dass es Männer gibt, die sich in Frauenkleidern sexy finden und Frauen, denen das in Männerkleidern so geht. Wie Nora. Was soll er sagen? Er sagt erst mal nur: Okay.
Fabian ist 28 Jahre, Nora 27. Sie gehen für sie in der Männerabteilung von H&M eine Hose und einen Pulli shoppen. Dann will Nora Jungs-Hobbys ausprobieren, so nennt sie das. Sie übt Skateboard fahren. Fabian übt mit. Er macht alles mit. Er will für Nora da sein, seine zukünftige Ehefrau.
Dass sie irgendwann heiraten würden, war für beide immer klar. Fabian mag Noras Witze, sie mag sein Lachen, beide mögen Mittelalterfeste, dieselbe Musik, dieselben Menschen. Fabian macht Nora einen Antrag, so richtig auf Knien, er überreicht ihr eine Kette mit roten Steinen. Sie machen einen Termin im Standesamt, verschicken Einladungen, kaufen das Kleid.
Dann passiert etwas mit Nora. Vielleicht ist es die Vorstellung, Ehefrau zu werden, bald in einer sozialen Rolle festzustecken. Sie weint viel, dann kann sie das, was in ihr arbeitet, nicht länger unterdrücken. "Ich bin vor der Hochzeit eskaliert", sagt Daniel M. heute.
14. Juni 2010, 9.18 Uhr: "Hallo Welt! Erstens: Ich habe jetzt Kontaktlinsen. Zweitens: Ich trage keine Röcke mehr. Drittens: Ich schneide mir heute die Haare ab." Nora hält das Bild eines Mannes in die Kamera: "So will ich die Haare."
Am Nachmittag des 14. Juni sitzt Nora beim Friseur, der ihre langen Haare abschneidet. Fabian hat sie begleitet. Er spürt Noras Freude, die vielleicht sogar noch größer ist als seine Angst. Später sagt Nora zu Fabian: Ich werde Hormone nehmen, einen Bart bekommen und auch nicht mehr Nora heißen.
"Du wusstest doch immer Bescheid", sagt Nora immer wieder. Dieser Satz ist ihr Schutzschild.
"Es ist nicht so, dass ich nichts geahnt hätte", erwidert Fabian. Aber ahnen ist etwas anderes als wissen.
Ausgesprochen hat sie es zum ersten Mal.
Nora fragt Fabian: "Wollen wir wirklich heiraten, wenn ich das jetzt so möchte?"
"Ja", antwortet Fabian. Er findet immer noch keine Worte für das, was er nicht einordnen kann. Dann reden sie nicht mehr über dieses Thema.
Erst ein Jahr zuvor hatte der Bundestag das Transsexuellengesetz so geändert, dass sich verheiratete Transidente nicht mehr scheiden lassen müssen, wenn sie das Geschlecht ändern.
Selbst wenn die Geschlechtsangleichung stattfindet, dürfen wir trotzdem verheiratet bleiben, denkt Fabian. Und ist Liebe nicht immer auch eine Anpassungsleistung?
Bis der Tod uns scheidet
Samstag, 24. Juli 2010, 14 Uhr, Lüneburger Ratssaal, die Eheurkunde trägt die Registernummer E 295/2010. Nach dem Jawort küsst Fabian Nora auf den Mund. Er trägt ein Barett, sie einen Kranz über dem kurzen Haar. Zum Fest gibt es Met und Braten, alles im Mittelalterstil, das mögen die beiden.
Drei Tage nach der Trauung steht Nora am Lüneburger Bahnhof, sie trägt eine weite Jeans, ein olivfarbenes T-Shirt und darunter ihren Binder, eine Art Tanktop, das ihr die Brust ganz flach drückt. Sie fühlt sich männlich. Sie fühlt sich gut.
Fabian fühlt sich zerrissen. Vor der Hochzeit noch war ihm das alles wie eine Ausprobierphase von Nora vorgekommen, Kleider weglassen, Hosen tragen. Irgendwie unverbindlich. Plötzlich ist es ernst. Warum nur können wir nicht auch so glücklich werden?, denkt Fabian.
Er sagt ihr, dass er gerade nicht weiß, ob er noch hinterherkommt. Dass er das Gefühl hat, sie entgleite ihm. Dass er sich fragt, ob er die Energie hat, das alles mitzumachen.
Und er fragt sich plötzlich auch, ob er eine solche Liebe, eine solche Zukunft überhaupt möchte. Er ist doch nicht schwul! Klar, als Kind hatte er eine My-little-Pony-Phase. Als Teenager hat er mal mit einem Kumpel geknutscht, aber gefühlt hat er dabei nichts. Er geht doch nicht an einem Mann vorbei und denkt: heißer Typ!
Fabian weiß nicht, ob ihm die Vorstellung gefällt, einen Bart zu spüren, wenn er seine große Liebe küsst. Wie werden sie überhaupt Sex haben?
Und dann die Frage, die ihn vielleicht am meisten umtreibt: Wie sollen sie Kinder bekommen, wenn Nora ein Mann wird? Von einer eigenen Familie hat er schon als kleiner Junge geträumt. Vater zu werden war für ihn der logische nächste Schritt nach der Hochzeit.
Andere Paare reisen in die Flitterwochen, Nora und Fabian M. beschließen, eine Auszeit voneinander zu nehmen. Es ist das erste Mal in ihrer langen Beziehung. "Wir sind an einem Punkt, wo wir eine Entscheidung treffen müssen", sagt Fabian.
Deshalb steht Nora am Bahnhof, auf dem Weg zu ihrer Mutter nach Bremen, um sich vor ihr als Mann zu outen. Deshalb fährt auch Fabian zu seinen Eltern. Abstand gewinnen.
Er hätte seine Lage jetzt mit alten Freunden besprechen, das Internet nach Informationen absuchen, seine Eltern um Rat fragen können. Doch Fabian macht nichts davon. Er will die Antwort in sich selber finden. Er geht in Syke zwei Tage lang im Wald spazieren, allein.
Noras Mutter fragt ihre Tochter, was sie falsch gemacht habe. Ob sie Nora vielleicht zu viel Jungsspielzeug gegeben habe?
Einige Tage später treffen Nora und Fabian sich wieder in ihrer Wohnung in Lüneburg. Nora hat beschlossen, um Fabian zu kämpfen. Zum ersten Mal hat sie Angst, er könne sie verlassen. Sie streut überall Rosen aus, und als er kommt, nimmt sie die Gitarre und singt First Day of my Life für ihn, von den Bright Eyes. Ein Liebeslied. In dem Video dazu sieht man junge und alte Paare, Homos und Heteros, kleine Männer und Frauen mit Bärten.
Für Nora ist die Sache klar, wenigstens theoretisch: Nicht ihre Sexualitätändert sich, sondern ihre Identität. Für sie als Transmenschen geht es nicht darum, mit wem sie ins Bett geht, sondern als wer. Trotzdem hat sie Angst, dass sie als Mann nicht attraktiv für Fabian bleiben wird.
Fabian hat Angst, dass er die Frau vermissen wird, in die er sich einmal verliebt hat. Aber soll er sie deshalb drängen, den falschen Körper zu ertragen? Wenn das für Nora der Ausweg aus ihrer Depression ist, kann er sie doch nicht aufhalten. Er erinnert sich noch genau, wie glücklich sie war mit ihrer ersten Männerfrisur.
"Deine Seele, die ich so liebe, die bleibt doch", sagt er zu Nora. Liebe ist wichtiger als Sex, denkt er. Aber er will eben auch Vater werden. Deshalb sagt er zwischen den Rosenblättern zu Nora: "Bevor dieses große Mister-Mister-Ding losgeht, möchte ich ein Kind. Das ist meine Bedingung."
Nora hatte sich nie als Teil einer eigenen Familie gesehen, weder als Mutter noch als Vater. "Aber die Vorstellung", sagt sie zu Fabian, "dass aus der Mischung von uns beiden ein kleiner Mensch erwächst, die finde ich schön."
Etwa ein Jahr braucht Fabian, bis er Nora ohne zu zögern mit ihrem neuen Namen ansprechen kann: Daniel. In der ersten Zeit sagt er nur "Schatz". Es ist fast, als müsse er sein Gehirn umprogrammieren. Die soziale Transformation ist so radikal wie die körperliche. Daniel will nicht nur wie ein Mann aussehen, er will auch wie einer behandelt werden. Nichts ärgert ihn mehr, als wenn man ihm die Tür aufhält. Die Höchststrafe ist, wenn einer ihn Frau M. nennt.
Inzwischen promoviert er in Psychologie und arbeitet als Coach für Langzeitarbeitslose. Fabian schreibt eine Dissertation zum Thema Kirchengeschichte. Fast all ihre Freunde, auch die Eltern, haben ihren gemeinsamen Weg akzeptiert. Die Postkarten an ihrem Kühlschrank sind jetzt an Daniel und Fabian adressiert, im Vorlesungsverzeichnis steht "Daniel (Nora) M.". Sogar Daniels Chef hat tolerant reagiert, "auch wenn sein Unterkiefer erst mal brauchte, bis er wieder am Oberkiefer dran war".
Daniel will Mutter werden
Transidentität und Kinderwunsch sind medizinisch und rechtlich möglich, dass wissen Daniel und Fabian. Allerdings gilt das erst seit 2011. Seit das Bundesverfassungsgericht entschied, dass ein Mann mit Gebärmutter ein Mann sein darf.
Jedes Mal, wenn Daniel jetzt nach dem Sex nicht schwanger ist, rechnet er: Jetzt noch mindestens einen Monat plus neun Monate Schwangerschaft plus sechs Monate Stillen – so lange muss er Frau bleiben. So lange kann er die Hormontherapie nicht beginnen. Und ist es womöglich das, was Fabian bezweckt? Soll er mit seiner Mutterschaft seine Weiblichkeit wieder akzeptieren lernen?
Daniel geht zum Frauenarzt, den er sonst meidet, sucht Rat in einer Kinderwunschklinik, fragt: "Haben Sie ein Problem damit, wenn ein frustrierter Transmann schwanger werden will?" Der Arzt bestimmt die Dicke seiner Gebärmutterschleimhaut, überwacht den Zyklus und gibt Medikamente. Daniel, der ein Mann sein will und sich längst so kleidet, spritzt sich jetzt täglich extra weibliche Hormone in den Bauch, anstatt endlich die Therapie mit männlichen Hormonen zu beginnen. Nur Fabian weiß, wie sehr er leidet.
"Das ist schon für normale Paare schlimm, so auf Knopfdruck Sex haben. Das ist Erniedrigung pur", sagt Daniel. "Ich halte das nicht mehr aus." Auch Fabian fragt sich inzwischen, ob Daniels Körper eine Schwangerschaft vielleicht ablehnt. Aber er denkt sich auch: Daniel hat es versprochen.
Zweieinhalb Jahre, 130 Wochen, 21.900 Stunden später sagt der Arzt dann doch: "Herr M., Sie sind schwanger."
Die Idee, dass man in einem weiblichen Körper geboren und überzeugt davon sein kann, in Wahrheit ein Mann zu sein, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Aber was geschieht, wenn man in einem weiblichen Körper geboren wurde, sich für einen Mann hält und trotzdem etwas exklusiv Weibliches wie eine Geburt erleben möchte? Wenn man quasi Mutter und Vater zugleich wird?
"Sie müssen eins werden mit ihrer Gebärmutter", sagt die Hebamme. "Das können Sie vergessen!", sagt Daniel, ein Mann mit kugelrundem Babybauch, den er liebt, weil da sein Kind drin ist. Immer wenn Jonte den Po von innen an die Bauchdecke drückt, streichelt Daniel darüber. "Aber den Satz mit der Gebärmutter, den streichen Sie mal", sagt er. "Das ist für mich nichts Schönes, sondern etwas Funktionales."
Daniel ist während der Schwangerschaft oft flau, übel, er liegt viel, ist antriebslos, reizbar. Er spürt eine fast traumatisierende Aufspaltung der männlichen und weiblichen Merkmale seines Körpers. Der Babybauch könnte noch als Bierbauch durchgehen, denkt er. Aber diese riesigen Brüste! Den Binder trägt er, auch wenn es schmerzt, bis sich die Brüste gar nicht mehr wegdrücken lassen. Die Schwangerschaft katapultiert ihn zurück in die Depression. Fast alles daran stört ihn, vor allem, dass er wieder als Frau wahrgenommen wird.
"Ah, da ist ja unser schwangerer Herr M.", neckt sein Chef ihn jetzt manchmal. Doch wegen der Arbeitslosen, die in Daniels Kursen sitzen, solle er doch erst mal lieber wieder als Frau auftreten, sagt der Chef, das sei sonst zu verwirrend. Daniel M. kommt sich vor, als hätte er ein Schild um den Hals: Du bist falsch. Erst als er im Mutterschutz ist, den er Vaterschutz nennt, fühlt sich alles doch richtig an: "Ich bin Daniel, und ich kriege ein Kind."
Jontes Geburt
"Pressen, Herr M., pressen!", ruft die Ärztin ihm zu. Am Montag, 6. April 2015, 21.47 Uhr, gebiert Daniel seinen Sohn Jonte. Auf der Wöchnerinnenstation im Krankenhaus Lüneburg sagt jeder Herr M. zu ihm, die Hebammen, die Schwestern und Ärztinnen, so steht es in seiner Akte, an seinem Bett und sogar in Jontes Untersuchungsheft. Hier stimmt alles: Daniel M., der gebärende Mann.
Obwohl er längst gern ein biologisch anderer wäre, hat er sich an das Stillen gewöhnt, mag es sogar. Er vertraut auf den Stoff Oxytocin, der mit der Muttermilch kommt. Oxytocin bindet sein Kind an ihn, hat er gelesen. "Jonte liebt es. Er braucht es so sehr", sagt Daniel M..
Trotzdem ist er oft müde, unmotiviert. Alles ist grau. Er hat wieder Kopfschmerzen. Aber erst wenn er abgestillt hat, kann er die Therapie mit männlichen Hormonen beginnen.
Er stillt elf Monate lang.
Endlich Mann
30. März 2016, in der Praxis des Lüneburger Endokrinologen sitzen lauter Schilddrüsenpatienten, dazwischen die Kleinfamilie: Daniel und Fabian M. mit Jonte. "Frau M., bitte", ruft die Schwester, dann: "Entschuldigung, Sie wollen sicher als Herr angesprochen werden."
Die Schwester setzt die zwölf Zentimeter lange Spritze an und injiziert die ölige Lösung in Daniel M.s linken Gesäßmuskel. Nebido heißt der Wirkstoff, der das männliche Geschlechtshormon Testosteron enthält. Am Po bleibt ein kleiner Hubbel, das Hormon bildet dort ein Depot und gelangt allmählich in die Lymphgefäße, von dort aus ins Blut und verteilt sich dann im ganzen Körper.
Alle zwölf Wochen muss Daniel jetzt in die Praxis kommen. Die Hormontherapie läuft ein Leben lang.
Nach der ersten Spritze bleibt seine Regelblutung aus. Nach der zweiten setzt der Stimmbruch ein. Der Kehlkopf vergrößert sich, und die Stimme sinkt um etwa eine Oktave. Die Haare, die man auch als Frau oberhalb der Lippe hat, sind jetzt dunkler und dichter. Fabian bringt ihm das Rasieren bei. Jeden Tag überprüft Daniel seine Verwandlung im Spiegel. Seine Oberarme legen an Muskulatur zu. "Nur vom Babytragen", sagt Daniel M., "ich habe gar nicht extra Sport gemacht."
Wenn man die beiden heute in ihrer Wohnung in Lüneburg besucht, wirken sie glücklich. Beinahe entspannt. Sitzen sie nebeneinander auf dem Sofa, füllt der zierliche Daniel den Raum, während der größere Fabian fast in den Kissen verschwindet. Daniel ist laut, wo Fabian leise ist. Übermütig, wo Fabian erst mal schweigt.
Die männlichen Hormone lassen Daniel aufdrehen, er bekommt Pickel, fast wie in der Pubertät. Inzwischen arbeitet er wieder, während Fabian sich in der Elternzeit einrichtet. Fabian ist es, der für die Familie kocht, er ist es, der die Babykleidung kauft.
"Es ist alles gut so, wie es ist", sagen beide. "Uns hat dieser Prozess noch mehr zusammengeschweißt", glaubt Fabian.
"Wir werden auch als Rentner noch ein glückliches Paar sein", glaubt Daniel.Fabian und er reden jetzt viel über eine mögliche Geschlechtsumwandlung, bei der die Brüste und Gebärmutter entfernt, Penis und Hoden operativ nachgebildet werden. Noch trägt Daniel eine Staffage aus Silikon.
Auf der Arbeit, sagt er, fragen ihn die neuen Kursteilnehmer schon, ob seine Frau zu Hause beim Kind sei. Sie ahnen nicht, wie sehr ihn das freut.
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