In ihrem Dokumentarfilm »Kommen um zu gehen« begleitet Chiara
Fleischhacker einen wegen Mordes verurteilten Gefangenen im offenen
Vollzug. Als sie ihn später noch einmal besucht, flieht er.
SZ-Magazin: Sie porträtieren einen wegen Mordes verurteilten Gefangenen. Wie sind Sie auf das Thema Strafvollzug aufmerksam geworden?
Chiara Fleischhacker: Bei einem Frühlingsspaziergang habe ich ein paar Kilometer außerhalb von Stuttgart einen imposanten Hof entdeckt. Auf einem Informationsschild stand, dass der Hohrainhof eine Außenstelle der JVA Heilbronn ist und dort aktuell Häftlinge arbeiten und leben. Nachdem ich etwas recherchiert hatte, habe ich dem Gefängnisdirektor von Heilbronn einen Brief geschrieben und gefragt, ob ich dort drehen darf.
Wie haben Sie mit Ihrem Protagonisten Kontakt aufgenommen?
Ich habe den Gefangenen mein Projekt persönlich vorgestellt, in der Hoffnung, einen Protagonisten zu finden. Ein Häftling - Thomas Buffler - hat sich gemeldet und gesagt, er hätte einiges zu erzählen. Wir haben dann einen Spaziergang durch die Weinfelder gemacht und ich war ziemlich erstaunt, als er mir erzählt hat, dass er wegen Mordes verurteilt ist. Ich war baff, dass er so offen damit umging. Der zuständige Vollzugsbeamte meinte: "Der geht auf keinen Fall, wir schlagen Ihnen einen anderen Protagonisten vor." Mir wurde ein Gefangener vorgeschlagen, der das System weniger kritisch sieht. Er kommt im Film ebenfalls zu Wort. Mit Thomas Buffler drehen zu können war schwieriger, aber letztendlich auch möglich.
Mit welcher Haltung sind Sie Thomas Buffler gegenübergetreten?
Mit Respekt, trotz seiner Tat. Ich habe ihn nicht verurteilt, sondern versucht, zu verstehen, wie es zu seiner Tat kam.
Wie haben sie es geschafft, dass er offen mit Ihnen gesprochen hat?
Ich glaube, er hat gemerkt, dass ich wirklich daran interessiert bin, wie das Leben im Vollzug nach so langer Zeit ist. Insgesamt saß er schon über 20 Jahre; die Hälfte seines Lebens. Und ich glaube, er hat sich auch gefreut, dass er Gehör findet.
Ihr Protagonist äußert sich dem offenen Vollzug gegenüber kritisch. Wie war ihr persönlicher Eindruck von diesem Strafkonzept?
Ich sehe das gesamte deutsche Strafsystem kritisch. Viele Gefangene empfinden die Strafe nicht so, wie viele Außenstehende sich das vorstellen. Wir denken, wer zwanzig Jahre sitzt, spürt Reue oder fühlt sich schuldig oder arbeitet etwas auf. Aber in Wahrheit ist es für viele einfach ein Sich-Anpassen, ein Überleben im Vollzug. Da werden viele Mechanismen aufgebaut, die einen total von der Außenwelt entfernen und nicht, wie es das erste Vollzugsziel vorsieht, sich in sie eingliedert.
Und wie war es, Ihrem Eindruck nach, für die Gefangenen auf dem Hof, im offenen Vollzug zu sein?
Die Gefangenen mit Familie freuen sich, sie bei den Ausgängen zu sehen. Auch wenn die Situation für Angehörige belastend ist. Ich meine aber, dass da schon viel Frust war. Frust, weil man nicht weiß, wann darf man wirklich raus, was sind die nächsten Schritte. Die Gefangenen arbeiten körperlich sehr hart. Gerade im Kuhstall oder draußen in den Weinreben. Und sie werden dafür kaum entlohnt, sind nicht rentenversichert. Manchen tut es sicherlich auch gut, wieder einen Rhythmus aufzubauen. Aber es ist ein beklemmendes Gefühl, zu wissen, um mich herum sind keine Mauern aber ich darf hier auch nicht weg.
Das Thema bringt eine gewisse Schwere und Langsamkeit mit sich, die Sie im Film auch durch Kameraführung und Schnitttechnik aufgegriffen haben. Warum haben Sie sich für diesen Stil entschieden?
Wir hatten die Vorgabe, analog auf 16 Millimeter zu drehen, das war sicherlich ein Aspekt, der uns in der Form beeinflusst hat. Denn wir hatten nur zehn Filmrollen zur Verfügung, also mussten wir relativ viel planen. Und in enger Zusammenarbeit mit dem Kameramann Christian Neuberger und der Editorin Ann-Kathrin Matthes haben wir auch versucht, dieses sehr spezielle Gefühl auf dem Hof in der Bildsprache und Rhythmik aufzugreifen - dieses Idyll, was natürlich eigentlich gar kein Idyll ist, sondern es ist ein totaler Widerspruch, auch die Monotonie und den Frust.
Sie schreiben im Abspann ihres Films, dass Thomas Buffler zurück im geschlossenen Vollzug ist. Wie ist es mit ihm weitergegangen?
Das ist tatsächlich eine lange und beklemmende Geschichte. Im Anschluss an den ersten Film wollte ich ein Langzeitprojekt mit ihm drehen, deshalb war ich noch sehr regelmäßig mit ihm in Kontakt. Er wurde zurück in den geschlossenen Vollzug verlegt, weil er nach einem Ausgang positiv auf Alkohol getestet wurde. Auch dort hatte ich ihn noch im geschlossenen Vollzug besucht und ihn auch bei einem Ausgang begleitet. Und bei diesem Ausgang ist er geflohen.
Was ist passiert?
Das ist eine Geschichte für sich. Was letztendlich dazu geführt hat, weiß ich nicht, aber er hat keinen Ausweg mehr gesehen und es damit noch schlimmer gemacht. Er wurde nach ein paar Tagen gefasst und nochmal aufgrund seiner Delikte auf der Flucht zu neun Jahren Haft verurteilt, mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
Haben sie immer noch vor, das Langzeitprojekt zu drehen?
Nein. Erstens gibt es die Möglichkeit nicht und zweitens brauchten alle beteiligten Distanz voneinander. Ich habe mich in einem zweiten Dokumentarfilm ebenfalls mit dem deutschen Strafsystem auseinandergesetzt und selbst die Grenzen des Möglichen gespürt. Zudem müssen nicht alle Erlebnisse filmisch aufgearbeitet werden und ich denke, dieses ist eines, was für eine Weile ruhen sollte. Aus Respekt allen Beteiligten und leider auch Opfern gegenüber. Ich denke, die Geschichte der Flucht hat mir auch für einen Teil die Augen geöffnet und mir das Dilemma des Systems, in dem es keine richtige Lösung zu geben scheint, vor Augen geführt.
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