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Ausgebremst. Einsam. Unter Druck. Was die Pandemie mit Jugendlichen macht

Um die 20 – das ist die Zeit, die viele Menschen im Rückblick als die tollste, spannendste, entscheidendste in ihrem Leben benennen. Was aber, wenn diese Phase in die Corona-Pandemie fällt? So sehen Psychologen die Lage – und die Jugendlichen selbst.

    Nico sitzt im Trainingsanzug vor seinem Computer. Den Wildwuchs auf dem Kopf hat er mit viel Gel nach hinten gekämmt. So weit, so gewohnt dieser Tage, in denen noch immer vieles zu hat, auch die Friseure. Eines aber irritiert: sein gebrochener Unterarm. Beim Lockdown-Hobby passiert, erzählt er beiläufig, als sei es das normalste überhaupt: Kickboxen im Esszimmer der WG. "Ich hab die Möbel raus und den Raum mit Matten ausgelegt." Nico ist ein Sportfreak und nun im zweiten Lockdown noch aktiver als zuvor. Nur eben zu Hause.

    Der 20-Jährige hat im vergangenen Jahr auf einem Gymnasium in Hamburg-Bahrenfeld das Abi gemacht. Damals stand lange nicht fest, ob die Prüfungen überhaupt stattfinden würden und wenn ja, in welcher Form. Dieses Durchkreuzen der Lebensplanung wiederholt sich gerade.


    Statt am Schreibtisch und per Videokonferenz mit dem stern-Reporter verbunden, wäre Nico jetzt lieber in Thailand und würde sich seinen großen Traum erfüllen: Ein Jahr lang wollte er sich dort in einem Box-Camp zum Profi-Kämpfer ausbilden lassen. Das Geld dafür hatte er schon angespart. Dann kam Corona. Jetzt sitzt Nico da, mit gebrochenem Arm und geplatzten Traum. Seinen Mini-Job bei einem Konzertveranstalter ist er ebenfalls los. Er überlegt, sich bei einem Callcenter zu bewerben. Diese Arbeit könne er auch "auf dem Arsch sitzend" erledigen. Es soll ein Witz sein, doch Nicos Frust ist unüberhörbar. Seine Worte bringen auf den Punkt, wie das Leben der meisten Jugendlichen gerade aussieht. Zuhause abhängen. Den Hintern platt sitzen.


    Die Zeit der "Entwicklungsmeilensteine"

    Nico heißt in Wahrheit anders, aber seinen Namen will er nicht in Zusammenhang mit seiner ausgebremsten Generation lesen. Um die 20 – dieses Alter nennen die meisten im Rückblick die tollste, wildeste, entscheidendste Phase ihres Lebens. Die Schule hinter sich, Ausbildung oder Studium vor sich. Der erste Job, die erste Liebe, die erste Wohnung. Das Leben liegt vor Dir, ein weites Feld, alles ist möglich! Psychologen sprechen von "Entwicklungsmeilensteinen". 

    Doch statt auf ein weites Feld blicken die End-Teenager seit einem Jahr auf Bildschirme mit Videokonferenzen. Ihr Leben ist eine Aneinanderreihung von Absagen und Ausfällen von Abschlussfeiern, Geburtstagen, Festivals und Konzerten. Weltreisen und ausufernde Partynächte hat sich diese Generation abgeschminkt und sich stattdessen auf Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen eingestellt. Die Inzidenzzahl als Richtwert für Lebensfreude.


    Erst Helden, dann Sündenböcke

    Die Jugend und Corona, das ist eine wechselhafte Beziehung. Zu Beginn des ersten Lockdowns feierten sich manche als Helden, als sie zum Schutz der Alten für ein paar Woche zu Hause blieben. "Unsere Großeltern wurden in den Krieg berufen, wir nur auf die Couch", war einer der am meisten geteilten Sätze im Internet. Im Sommer dann wurden Teens und Twens zu Sündenböcken gemacht, galten als verantwortlich für steigende Coronazahlen, weil sie sich nicht an die Abstandregeln hielten oder illegale Partys feierten – um nur wenige Monate später von der Bundesregierung in einer Imagekampagne zu tatenlosen Helden hochstilisiert zu werden. Bei all dem ging unter: Wie es den Jugendlichen selbst überhaupt geht.

    Nico aus Hamburg-Bahrenfeld erzählt: Sein Leben sei nie groß anders gewesen als das anderer Jugendlicher, meist war er nach der Schule draußen unterwegs, manchmal mit zehn, manchmal mit 20 anderen. Gerade deshalb habe es sich so drastisch verändert. "Ich kann jetzt zwar abhängen, aber genießen kann ich das Leben nicht", sagt er. Was ihm am meisten fehle, könne er gar nicht genau sagen. Es sei einfach "die Würze im Leben", die Corona ihm geraubt habe. Im Lockdown verschwimmen die Tage zu einem Einheitsbrei.

    Seinen Thailand-Traum hat Nico noch nicht ganz begraben, er glaubt allerdings nicht, dass er jemals wieder die Möglichkeit haben wird, für ein komplettes Jahr in ein anderes Land zu ziehen. Sein Traum ist zu einem Kurztrip zusammengeschrumpft. "Die Gesellschaft gesteht dir als Jugendlichem ein Jahr Auszeit zu, zum Abhängen, um die Welt zu entdecken." Eine Lücke von zwei Jahren im Lebenslauf mache sich schon wieder nicht gut. Die Übergangsphase nach dem Abi und vor dem Studium sei eben eine ganz besondere Zeit. "Dass Corona bei mir ausgerecht in diese Zeit fällt, ist saublöd."


    Lockdown in der Gastfamilie

    Ein Anruf bei der 17-jährigen Mia. Sie kommt ebenfalls aus Hamburg. Auch ihre Reisepläne hat Corona zerschlagen. Es ist spät am Abend. Mia hat gerade ein Referat für den nächsten Morgen vorbereitet. Religion. Auch für sie gilt: Homeschooling. Das sei nervig, sagt sie, klar. "Aber ich bin einfach nur froh, dass ich noch ein Jahr bis zum Abitur habe. Bis dahin hat sich alles hoffentlich wieder normalisiert."

    Die Elftklässlerin wollte im vergangenen Jahr eigentlich ein halbes Schuljahr in Spanien verbringen. Im Februar reiste sie zu ihrer Gastfamilie nach Marbella. Schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft begann in dem Land der Ausnahmezustand, mehrere hundert Menschen am Tag starben an Corona, vor allem in Altenheimen. Krankenwagen stauten sich vor den Hospitälern. Raus durfte nur, wer zur Arbeit musste, mit dem Hund Gassi ging oder Lebensnotwendiges einkaufte. Statt mit Gleichaltrigen die Schulbank zu drücken, eine andere Stadt und eine neue Kultur zu entdecken, war Mia eingesperrt, zusammen mit ihr noch fast völlig fremden Menschen. Eine Extremsituation. Auf Wunsch der Eltern kehrte sie nach zweieinhalb Wochen Lockdown nach Deutschland zurück. "Im Nachhinein war es richtig so", sagt Mia. Doch als sie in Hamburg ankam, habe sie erstmal geweint. "Nicht, weil ich wieder zu Hause war, sondern weil ich wusste, dass es mit Spanien jetzt endgültig vorbei war."

    Momentan fühle sie sich wieder an das Eingesperrt-Sein erinnert. "In meinem Alter", sagt die 17-jährige, "würde man jetzt eigentlich jedes Wochenende mit Freunden feiern." Sie klingt unsicher, fast schon, als wolle sie sich vergewissern, ob das wirklich einmal so gewesen war. "Meine jetzigen Wochen-Highlights sind, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen gehe." Sie habe angefangen, sich das Töpfern und Kerzengießen beizubringen. Es klingt eher nach Therapie als nach Spaß.

    Was macht es mit einer Generation, die in einer entscheidenden Phase ihrer Entwicklung mehr zu Hause mit den Eltern rumhängt als mit Freunden?  Die ins Kind-Sein zurückgedrängt wird? Für die das Freischwimmen von den Eltern an deren Haustür endet? 


    Depressionen nehmen zu

    Ein Anruf bei Julia Asbrand. Sie ist Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, die 35-Jährige betreut dort den Fachbereich Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie. Sie erklärt, die Einschränkungen, die Heranwachsende jetzt erlebten, blieben nicht ohne Folgen für ihre Psyche. "Unter Kindern und Jugendlichen hat die Zahl der von Stresssymptomen wie Angst, Depressionen, Ess- und- Schlafstörungen Betroffenen seit vergangenem Jahr stark zugenommen." Noch völlig offen seien die Langzeitfolgen der jetzigen Situation. "Gut möglich, dass die erst in einigen Jahren auftreten. Angststörungen, Depressionen und Aufmerksamkeitsstörungen können weiter zunehmen." 


    Schon in normalen Zeiten, berichtet Asbrand, litten rund zwanzig Prozent der Bevölkerung unter psychischen Beschwerden. Auch wenn leichte Symptome genauso dazu zählen ist das eine erstaunlich hohe Zahl. Inzwischen allerdings liege der Anteil der Menschen mit psychischen Leiden in Deutschland bei erschreckenden 40 Prozent. "Und diese Zahlen sind vom Sommer", sagt die Psychologin. Also bevor der zweite Lockdown verhängt wurde.


    Dennoch beruhigt Asbrand: "Kinder und Jugendliche können oft besser mit Krisen umgehen als Erwachsene, allein aufgrund der Lebensumstände, die sich für junge Menschen noch ständig ändern." Ein Weiter-so dürfte es trotzdem nicht geben. Sie mahnt dringend an, Kinder und Jugendliche in Entscheidungen, die deren Leben betreffen, einzubeziehen. Stichwort: Schulöffnungen. "Wenn Kinder und Jugendliche mitentscheiden dürfen, erfahren sie Kontrolle. Die wiederum ist ein wichtiger Faktor fürs Wohlbefinden."


    Der 21-jährige Tom Lasse hat die Schule schon hinter sich gelassen, er studiert International Management in Flensburg. Mit den Abiturienten allerdings teilt er die Lern-Situation: Er studiert aus dem Kinderzimmer seines Elternhauses, gut 20 km entfernt von Flensburg. Nestflucht – das war einmal.


    Sorge um den späteren Beruf

    Tom sieht sich gegenüber seinen Vorgängern im Studium im Nachteil. Nicht, weil die Vorlesungen digital stattfinden, das funktioniere ganz gut. Die Dozenten seien aber nur schwer erreichbar. "Kein Wunder", sagt er, "sie werden momentan überflutet mit Emails, die sind ja momentan der einzige Weg der Kontaktaufnahme." Tom macht sich Sorgen, dass seine Ausbildung mal weniger wert sein könnte als die von anderen Generationen, dass er sein ganzes weiteres Leben auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sein könnte. "Personalabteilungen werden auch nach Corona wieder auf die Anzahl der Praktika und Auslandsaufenthalte gucken – die ich eben nicht machen konnte."


    Toms Sorge ist nicht unbegründet, das zeigt etwa eine aktuelle Studie des Frankfurter Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen Corona-bedingten Unterrichtsausfällen und einem wohl niedrigeren Einkommen später. Besonders betroffen: Jugendliche aus Problemfamilien, die zum Beispiel mit der deutschen Sprache Schwierigkeiten haben.


    Markus Warnke ist Geschäftsführer der Wübben-Stiftung, einer privaten Bildungsstiftung mit Sitz in Düsseldorf. Er warnt: "Durch die Pandemie wird die Bildungsschere unter Kindern und Jugendlichen täglich größer. Damit wächst auch die Ungerechtigkeit." Vor allem die Corona-bedingten Schulschließungen ließen die Zahl abgehängter Kinder und Jugendlicher rasant wachsen, da in Deutschland Bildungschancen sehr stark von den Eltern und ihrem Bildungsgrad abhängig seien.  Neu ist diese Erkenntnis nicht, trotzdem wurden bisher wenig wirkungsvolle Maßnahmen entwickelt. Das rächt sich jetzt. "Wenn diese Generation den Eindruck bekommt, weniger Chancen zu haben, über Bildung den Aufstieg zu schaffen, wenn sie den Eindruck bekommt, dass es nicht fair zugeht, dass sie weniger gut aufs Leben vorbereitet wurde als vorherige Generationen, dann rüttelt das an den Grundfesten unserer Gesellschaft", sagt Warnke.


    Noch vor weniger als zwei Jahren diskutierten Politiker und Lehrer darüber, ob es zulässig sei, dass Jugendliche für den Klimaschutz ein paar Stunden lang freitags auf die Straße gehen. Nun sind die Schulen zu, seit Wochen, eine Öffnung ist nicht in Sicht, während Fabriken noch immer Autos, Kühlschränke oder Möbel produzieren. Das Vertrauen junger Menschen in die Politik stärkt das nicht. 


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