1 abonnement et 5 abonnés
Article

Die Hausarztpraxis in Londons Problemviertel

(Ärztemagazin Österreich)

Eine Ärztin mit deutschen Wurzeln hat sich nicht das einfachste Plaster für ihre Tätigkeit ausgesucht – schwärmt aber vom Gesundheitssystem.

Leytonstone im Osten von London ist nur fünf U­-Bahn-­Stationen vom glit­zernden Bankenviertel in der Innenstadt entfernt. Und doch liegen zwischen beiden Stadtteilen Welten. In den Nebenstraßen rei­hen sich einfache Arbeiterhäuser aus viktorianischer Zeit aneinan­der. Vor ihnen parken zumeist äl­tere und kleinere Autos. Super­märkte gibt es in dem Viertel nur wenige, stattdessen kleine Läden, von denen viele den Zusatz „Halal“ tragen. In den letzten Jahren sind viele osteuropäische Geschäfte hinzugekommen.

„Es gibt hier Leute, die waren noch nie im Zentrum von London. Das kann man sich gar nicht vorstel­len!“, sagt Carolin Kumana. Die deutsche Ärztin arbeitet seit neun Jahren in der „Lime Tree Surgery“, einer Allgemeinarztpraxis in dem Problemviertel. Das hochmo­derne Praxisgebäude wirkt mit seinen großen Fensterfronten in der schmucklosen Hauptstraße des Viertels wie ein Raumschiff. An der Rezeption sitzen an diesem Nachmittag drei lustige ältere Sprechstundenhilfen, die ein we­nig an die „Drei Damen vom Grill“ erinnern. Das Wartezimmer ist immer voll.

CAROLIN KUMANA SITZT in ihrem Be­handlungszimmer, das wegen der strikten Hygienevorschriften funkti­onal­-schlicht eingerichtet ist. Sie ist eine lebhafte Anfangvierzigerin, die viel mit den Händen gestikuliert, wenn sie spricht. Kumana lebt schon so lange in London, dass sie oft Deutsch und Englisch zusam­menwirft, wenn sie etwas erzählt. „Dieses Viertel hier ist wirklich pro­blematisch“, erzählt die Ärztin. Ge­ ade erst im Sommer sei vor einem Geschäft in der Nähe ein Mann niedergeschossen worden. Die pre­käre Situation vieler Menschen spiegele sich auch in den gesund­heitlichen Problemen ihrer Pati­enten wider, sagt Kumana. „Wir ha­ben hier Patienten, die sind Mitte 20, denen fehlen die Zähne. Andere gehen auf Krücken. Viele leiden an Depressionen oder an den Folgen von Drogen­ oder Alkoholmiss­ brauch.“ Alles Folgen der großen Armut, die in dem Viertel herrsche, sagt Carolin Kumana. Und die habe in den vergangenen Jahren eher noch zugenommen. Hinzu kämen Krankheiten, an denen zum Bei­spiel Menschen aus Südasien ver­stärkt litten.

„Aber das macht die Arbeit so in­teressant. Ich könnte auch in einer schicken Praxis in einem wohl­ habenden Viertel arbeiten, wo die Patienten privat einen Ganzkörper­-MRT­-Scan wollen, weil sie sich den Zeh gestoßen haben. Das fände ich langweilig.“

DER DIREKTE KONTAKT mit den Men­schen war es auch, der Carolin Ku­mana in die Allgemeinmedizin ge­bracht hat. Als Assistenzärztin hat sie noch an mehreren Krankenhäu­ sern als Gynäkologin gearbeitet. Da habe sie allerdings mit ihren Patientinnen immer nur kurz und  flüchtig zu tun gehabt, erzählt sie. Bei einem Einsatz in einer Allge­meinarztpraxis habe ihr der viel direktere Umgang mit den Patienten gefallen, erzählt Kumana. Sie schulte auf Allgemeinmedizin um und begann, an der Lime Tree Sur­gery zu arbeiten. Das war vor neun Jahren. Fünf Jahre später wurde sie Teilhaberin.

„Ich empinde es als absolutes Pri­vileg, dass ich hier einen Einblick in das Leben der Leute bekomme“, sagt Kumana. Es sei etwas kom­plett anderes, Patienten und deren Familien jahrelang zu begleiten. Die Patientenkartei der Praxis um­ fasst derzeit 7.800 Namen. Kumana sagt, nicht ohne Stolz: „Ich kenne sie alle!“ 7.800 Patienten sei schon relativ viel, erzählt sie dann. Die Lime Tree Surgery sei eine relativ große Praxis. Die ganz großen Ge­sundheitszentren hätten um die 10.000 bis 12.000 Patienten.

Ihre Praxis ist in den staatlichen Ge­sundheitsdienst NHS eingebunden. Und der ist in Europa ein Sonder­fall: Der NHS wird nicht aus Beiträ­gen, sondern beinahe vollständig aus Steuergeldern finanziert. Jeder, der in Großbritannien wohnt, ist automatisch krankenversichert. Reisende aus der EU und dem Euro­päischen Wirtschaftsraum haben bei Notfällen ebenfalls Anspruch auf eine kostenfreie medizinische Versorgung.
Kumana teilt sich die Praxis mit einem britischen Arzt pakista­nischer Abstammung, der in Groß­britannien auf die Welt gekommen ist und schon lange in der Praxis arbeitet. Zum Team gehören auch ein Arzthelfer, eine Krankenschwester, acht Sprechstundenhilfen, eine Praxismanagerin und ein Arzt, der in Teilzeit arbeitet. Eine Psychothe­rapeutin hat in der Praxis ebenfalls ein Behandlungszimmer. 

Während des Gesprächs klopfen mehrmals junge Ärztinnen an die Tür, weil sie eine Frage an Kumana haben. Sie und ihr Kollege bilden derzeit vier Assistenzärztinnen aus. Kumana arbeitet hier in Vollzeit.

Kumana und ihr Kollege betreiben die Praxis als Unternehmer. Von den Einkünften – zu denen Zu­schläge kommen, weil die Praxis in einem Problemviertel liegt – werden die laufenden Kosten und Investitionen bezahlt. Wie sie über den Rest verfügen, entscheiden Kumana und ihr Praxis-­Partner gemeinsam. Sie verdiene dabei schon ein wenig mehr als ein ange­stellter Arzt, sagt Carolin Kumana. „Aber als Teilhaber muss man viele organisatorische Dinge erle­digen. Und die sind öde. And very time consuming.“

Carolin Kumana ist mit 19 zum Studium nach Großbritannien ge­kommen. Ihre medizinische Aus­bildung sei sehr praxisbezogen ge­wesen, das habe ihr gefallen. Ihr ge­falle es auch, dass niedergelassene Ärzte hier ständig weiter gefordert würden, sagt sie dann. „Man kann hier nicht jahrelang Fach­ oder Oberarzt sein. Mann muss sich ständig fortbilden.“ So müssten selbst Hausärzte pro Jahr 80 Stunden an Fortbildung nachweisen. Dass Kumana als EU­-Ausländerin in Großbritannien praktiziert, ist keine Ausnahme. Schon seit den 1930er­-Jahren rekrutiert das Land Ärzte aus dem Ausland. Als 1948 der NHS ins Leben gerufen wurde, wuchs der Bedarf an Ärzten rasant an. In den 1960er­Jahren stamm­ten zwischen 30 und 40 Prozent der Ärzte im NHS aus Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka. Auch heute stammt immer noch rund ein Viertel der Ärzte im NHS aus dem Ausland.

DOCH DER NHS steckt in der Krise. Der Dienst ist unterfinanziert, die Wartezeiten für Behandlungen sind lang. Gerade in den Großstäd­ten ächzen die medizinischen Ein­richtungen unter einem starken Ansturm an Patienten. Konservati­ve und rechtspopulistische Politi­ker machen in erster Linie Zuwan­derer für diese Krise verantwort­lich. Das Thema stand im Vorfeld des EU-­Referendums im Juni ganz oben auf der Liste der Brexit­-Be­fürworter. Kritiker wenden hinge­gen ein, dass das System schon seit langem unterfinanziert ist und dass es deswegen zu Engpässen kommt.

Und die gehen nicht spurlos an den Ärzten des Landes vorbei. So treten derzeit die Assistenzärzte alle paar Wochen in den Streik. Nach jahre­langen erfolglosen Verhandlungen hat die konservative Regierung im Sommer in Eigenregie einen neuen Vertrag für die Assistenzärzte in Kraft gesetzt. Dieser sieht zwar ei­ne Gehaltserhöhung vor. Im Gegen­zug wurden jedoch die Zuschläge für Wochenend­- und Nachtdienste gekürzt.
Gehaltserhöhungen, die nach Dienstjahren vergeben wer­ den, wurden ebenfalls abgeschafft. Viele Assistenzärzte beklagen, sie würden damit für mehr Arbeit zu unwirtlicheren Stunden schlechter bezahlt.

KEIN WUNDER, DASS der Arztberuf in Großbritannien an Attraktivität ver­liert. Für Medizin­-Studienplätze gibt es immer weniger Bewerber. Viele Ärzte zieht es ins Ausland – et­wa nach Australien oder Kanada. Alleine im vergangenen Jahr hat der General Medical Council 8.625 Do­kumente ausgestellt, die Ärzte brau­chen, um ins Ausland zu wechseln – 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Angesichts dieser Umstände ist das Vorgehen der Regierung erstaun­lich: Sie erklärte kürzlich, die aus­ländischen Ärzte sollten nach und nach durch britische Mediziner er­ setzt werden. Gesundheitsminister Jeremy Hunt kündigte an, dass die Medizinhochschulen hierfür 1.500 zusätzliche Medizin­Studienplätze im Jahr bereitstellen würden.

Carolin Kumana glaubt nicht, dass sie in einigen Jahren gebeten wer­den könnte, das Land zu verlassen. Dafür sei Großbritannien zu sehr auf Ärzte aus dem Ausland ange­wiesen. Und die Idee, die Zahl der ausländischen Ärzte zu verringern, stamme angesichts des Personal­ mangels ganz sicher nicht vom NHS, argumentiert sie.

Den nimmt Kumana allen Widrigkeiten zum Trotz in Schutz: „Der NHS ist fantastisch! Ich denke, er ist das Flagg­ schiff der medizinischen Versor­gung. Als Kind, ob arm oder reich, muss man hier für seine Rezepte nichts zahlen. Wenn man alt oder arm ist, auch nicht. Ich finde das großartig!“ Der staatliche Gesundheitsdienst müsse nur besser finanziert werden.