Auf Malta suchen EU-Innenminister Lösungen für die Seenotrettung. Eric Chinje, Journalist in Kamerun, beschreibt eine afrikanische Perspektive auf das Thema.
Eric Chinje, 1954 in Kamerun geboren, ist Vorstandsmitglied der African Media Initiative, einem panafrikanischen Zusammenschluss von mehreren Tausend Journalistinnen und Journalisten und Verlegern mit Sitz in Nairobi. Davor hat er für die Weltbank in Washington gearbeitet, war Kommunikationschef der African Investment Bank in Tunis und Berater für die Regierungen der Demokratischen Republik Kongo, Liberias und Südsudans. Chinje ist Mitorganisator der September School on Media and Migration, einer Konferenz europäischer und afrikanischer Journalisten, die vom 9. bis 14. September in Rabat, Marokko, stattfand.
ZEIT ONLINE: Herr Chinje, die Innenminister verschiedener EU-Staaten beraten auf über die Verteilung der geretteten Menschen auf den Rettungsbooten. Die Schiffe warten teils über Wochen auf See, weil ihnen die Zufahrt zu europäischen Häfen verwehrt wird. Ist die Situation auf dem Mittelmeer ein Thema in afrikanischen Medien?
Eric Chinje: Ja. Aber auch nur, weil es in internationalen Medien für Schlagzeilen gesorgt hat. Ansonsten hätten es die Medien in Afrika wahrscheinlich nicht aufgegriffen. Erst die Weigerung , die Menschen aufzunehmen, hat dazu geführt, dass sich vereinzelt Journalisten mit den Ursachen beschäftigen. Aber auch das ist immer noch die Ausnahme. Generell ist die Situation auf dem Mittelmeer in Afrika nur ein Problem von vielen. Und Migration kein Thema, das die Leute beschäftigt.
ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?
Chinje: Für uns ist einfach eine natürliche Bewegung. Fast wie bei Figuren auf einem Schachbrett: Man sieht sich um, versucht sich anzupassen, zieht gegebenenfalls weiter. Für Afrikaner ist das ein integraler Bestandteil des Lebens. Sie sind es gewöhnt, dass Menschen aus Nachbarländern bei ihnen leben, seien es sudanesische Kriegsflüchtlinge in Uganda oder Mosambikaner in Malawi. Es ist eine Erfahrung, die fast jeder Afrikaner kennt, zu der jeder eine Beziehung hat. Wir begreifen diese Bewegungen als natürliche Reaktionen auf zeitlich begrenzte Krisen.
ZEIT ONLINE: Ab welchem Punkt werden diese Bewegungen kritisch?
Chinje: Sobald Massenbewegungen daraus werden. Sobald Menschen zu Tausenden die Wüste durchqueren oder sich auf den Weg über das Mittelmeer machen. Das sind keine natürlichen Reaktionen mehr. Migration ist ein natürliches Phänomen. Diese Massenbewegungen sind es nicht.
ZEIT ONLINE: Was ist Ihrer Meinung nach die Hauptursache für diese Massenbewegungen?
Chinje: Schlechte Regierungsführung. Wenn es eine Regierung nicht schafft, die Grundbedürfnisse der Bürger zu erfüllen, also Nahrung, Wohnung, medizinische Versorgung und Bildung. Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, führt das zu Krisen, die wiederum in gewaltsamen Konflikten münden können. Und diese Konflikte sind - neben Naturkatastrophen - einer der Hauptfaktoren für die Massenbewegungen. Die wirtschaftliche Situation ist im Vergleich weniger bedeutend. Wer sein Land aus wirtschaftlichen Gründen verlässt, versucht es in der Regel im Nachbarland. Das muss man dazu sagen: Ein Großteil der migrierenden Afrikaner - weit über die Hälfte - geht nicht nach Europa, sondern in andere Regionen ihres Landes oder ins Nachbarland. Erst wenn sie auch dort keine besseren Bedingungen finden, ziehen sie weiter nach Europa.
ZEIT ONLINE: Ist Europa für diese Menschen verantwortlich? In Europa wird diese Frage viel diskutiert.
Chinje: In der breiten afrikanischen Öffentlichkeit wird das nicht groß debattiert, eher unter Akademikern. Ich persönlich denke, dass man die internationalen Beziehungen neu überdenken muss. Bodenschätze etwa wurden uns allen, den Menschen, gegeben. Nun geht es darum, sie so zu verteilen, dass wir gleichberechtigt koexistieren können. Beispiel Tschad: Das Land hat große Ölvorkommen, die Menschen sind bereit, sie zu teilen. Aber es kann nicht sein, dass europäische Unternehmen mit dem Öl Geld verdienen, die Menschen im Tschad aber nichts davon haben. Noch immer fließt der Großteil der Einnahmen von Bodenschätzen nach Europa. Das ist falsch. Es ist natürlich nicht nur die Schuld Europas, es liegt auch an der schlechten Regierungsführung in vielen afrikanischen Staaten. Beides muss korrigiert werden.