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Kolberg: Sommerfrische im Pommerschen

Kolberg, Foto: Rolf G. Wackenberg

Der Titel "Seebad" ist in Deutschland begehrt, nur ausgewählte Küstenorte dürfen sich offiziell so nennen. An der Ostsee zum Beispiel Heringsdorf oder Ahlbeck oder Binz. Ein Ort gehört seit 1945 nicht mehr dazu: Kolberg in Hinterpommern. Und das nicht, weil hier die Seeluft plötzlich weniger frisch oder der Strand weniger fein war, sondern weil die Stadt am Meer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu Deutschland gehört. Sie fiel - zu 90 Prozent zerstört - an Polen und wurde umbenannt in Kolobrzeg, die deutschen Bewohner flüchteten oder wurden vertrieben. Der Wiederaufbau verlief schleppend, statt kaiserlicher Bäderarchitektur zierten fortan polnische Plattenbauten den Ostseestrand. Glamour und Tradition waren Geschichte.

Gleichwohl ist Kolberg einer der beliebtesten Badeorte an der südlichen Ostseeküste geblieben, wenn auch mit anderem Publikum: Seit dem Krieg dient er nicht mehr den Berlinern als Badewanne, sondern den Polen, die die Stadt schon zu sozialistischen Zeiten als Sommerfrische entdeckt hatten. Doch neuerdings mischen sich mehr und mehr deutsche Urlauber unter die Einheimischen, und diese Deutschen sind keineswegs nur gebürtige Hinterpommern, die der alten Heimat einen Besuch abstatten, nein, zunehmend kommen auch jüngere Semester auf den Geschmack und genießen weite Strände, sanfte Wellen, grüne Küstenwälder, günstige Preise - und sie stoßen dabei auf gastfreundliche Menschen, die mit Stolz an die alte Seebadtradition Kolbergs anknüpfen.

Die geht auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Damals hatte Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. die Gründung eines "Seebade Etablissements" angeregt. Mit Erfolg: 1803 erschien eine Schrift mit dem Titel "Über das Meerbad bei Colberg und die beste und wohlfeilste Art sich desselben mit Nutzen zu bedienen", 1875 wurden bereits 4152 Kurgäste registriert, 1880 feierte die vierte Solbadeanstalt mit 58 Badekabinen Eröffnung, im Sommer 1936 zählte Kolberg 450 319 Gästeübernachtungen, mehr als Westerland und Helgoland zusammen. Heute hat die wiederaufgebaute Hafenstadt rund 46 000 Einwohner und 7000 Gästebetten, viele davon in den gut 20 Hotels, die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus neu gebaut wurden. Damit ist Kolberg der größte Kurort Polens, in dem man vor allem Moor- und Solebehandlungen genießt - und das hiesige Mineralwasser namens Jantar, das ob seiner heilenden Wirkung in ganz Polen einen erstklassigen Ruf hat.

Eine Altstadt hat der Kurort trotz der Feuerwalze des Zweiten Weltkriegs übrigens noch immer. Herzstück ist der im 14. Jahrhundert erbaute Dom. Ursprünglich sollte die kriegszerstörte Ruine abgerissen werden, doch zum Glück wurde sie der katholischen Kirche übergeben, die 1957 den Wiederaufbau beschloss. Heute fasziniert die Marienkirche durch ihre sakrale Schlichtheit im Stil der Backsteingotik - und durch einige schiefe, nach außen gerichtete Säulen, die laut Stadtführer Petr wohl auf eine Absenkung des Bodens zurückzuführen sind und die den Eindruck erwecken, als falle der Bau nach oben hin auseinander.

Der Rest der Altstadt verdankt ihr heutiges Antlitz einer ähnlich glücklichen Fügung. Der fast völlig zerstörte Stadtkern wäre in den 70er-Jahren beinahe einem vielgeschossigen Bauprojekt zum Opfer gefallen. Doch die Arbeiten seien nicht recht vorangekommen, sagt Petr, dann kamen Kriegsrecht und das Ende des Kommunismus - und ein neues Verständnis von urbanem Leben. Mit dem erfreulichen Ergebnis, dass man in Kolberg heute auf den Spuren des mittelalterlichen Straßennetzes wandeln und sich an den Backsteinfassaden des Pulverturms, des klassizistischen Braunschweigschen Hauses (mittlerweile Sitz des Heimatmuseums) und des im 19. Jahrhundert von Karl-Friedrich Schinkel errichteten Rathauses erfreuen kann. Die später hinzugekommenen Neubauten sind keine Betonklötze, sondern kleinteilige Gebäude, die sich an den historischen Dimensionen des früheren Stadtbilds orientieren. Platz zum Verweilen gibt es ausreichend, etwa im plüschig-barocken Ambiente des "Domek Kata", des früheren Henkerhauses. Einen passenden Namen für das Herz der Stadt hat man auch gefunden: Nowa Starówka, neue Altstadt.

Nicht nur hier wird längst wieder flaniert wie früher, ebenso am Hafen, in dem neben Fischerbooten und Handelsschiffen verstärkt auch schmucke Yachten festmachen. Beliebtes Fotomotiv ist der dicke backsteinerne Leuchtturm, der zwar alt aussieht, aber erst nach dem Krieg errichtet wurde; er steht auf den Fundamenten einer Festung, die auf das Jahr 1666 zurückgeht. Ein gefragter Treffpunkt ist auch die nicht weit entfernte Seebrücke, die sich stolze 220 Meter ins Meer zieht. Die gab es zu deutscher Zeit noch nicht, sie wurde erst 1971 errichtet. Und dann ist da natürlich der Strand, der sich feinsandig und weiß vom Leuchtturm bis zur Waldenfelsschanze erstreckt. Sonnenanbeter und Strandkorbfreunde, Beachvolleyball-Spieler und Nordic-Walking-Enthusiasten frönen hier ihrer Leidenschaft, und frühmorgens, wenn es noch nicht allzu voll ist, sind auch Jogger und Bernsteinsucher unterwegs.

Nachmittags und abends wird es dann regelmäßig laut: Die schicke Freiluftkonstruktion des Kulturzentrums RCK in der Nähe des Bahnhofs bereitet der ambitionierten Musik diverser Rockbands eine fulminante Bühne. Und erstaunlich: Die jungen Bands finden ihre Zuhörerschaft nicht nur unter ihresgleichen. Auch Mittfünfziger und sogar Besucher, die ab und zu an ihren Hörgeräten hantieren, folgen den Shows gut gelaunt. Weiter geht die Party am Abend in den vielen kleinen Bars direkt am Strand. Wem das nicht reicht, dem sei das dreitägige Sunrise-Festival ans Herz gelegt, das seit 2003 alljährlich in Kolberg stattfindet (in diesem Jahr ab dem 22. Juli): Es lockt bis zu 40 000 Techno-, House- und Trance-Begeisterte an, die tagsüber in Scharen am Strand chillen, um nachts im Amphitheater am östlichen Ortsausgang, dem Schauplatz des Festivals, zu feiern. Das ist weit genug von den Hotels entfernt, um den Schönheitsschlaf der Kurenden nicht zu stören.

Zeit für ein frisch gezapftes Bier (zu empfehlen sind Lech oder Zywiec) mit Blick aufs Meer - und für ein Resümee: Die Kolberger Moderne hat mehr zu bieten als Wellness und Backsteingotik. Sie ist nicht nur ein Anziehungspunkt für Strandliebhaber und Freunde jodreicher Kurpackungen, sondern auch für jene, die munteres urbanes Leben zu schätzen wissen. Damit unterscheidet sich der Ort deutlich von den anderen polnischen Ostseestädtchen, aber auch von den Kaiserbädern Mecklenburg-Vorpommerns mit ihrer scheckheftgepflegten Bäderromantik. Nach Kolberg fährt man längst nicht mehr, weil es billig ist, sondern weil es vielseitig und gesellig ist, schlichtweg anders. Und vielleicht auch, weil es sich offen zu seinen historischen Narben bekennt. So ist der aufgemöbelte Stadtkern umgeben von sozialistischen Bausünden, die bis zu elf Etagen in den Himmel ragen. Im östlichen Strandzentrum, gleich hinter der Promenade, trifft Altes auf Neues und Unfertiges auf Modernes. Hotelneubauten wachsen neben historischem Leerstand und zeitlosen Investitionsruinen. Ein paar Querstraßen weiter dann in die Jahre gekommene Zelte, in denen man allerlei Schnickschnack erstehen kann: der Polenmarkt.

Das alles kann man unschön finden, aber auch vielschichtig, spannend, interessant. Die Mischung lockt jedenfalls allerlei unterschiedliche Menschen an, Rentner aus Polen und Deutschland, Vertreter der polnischen Mittelschicht, Familien mit Kindern, Jugendliche und Junggebliebene, die etwas erleben wollen, aber auch solche, die das Idyll des Hinterlands suchen. Dort, wo der Fluss Persante in die Ostsee mündet, sitzen ein paar Endvierziger aus Deutschland mit Anglerwesten auf einer Holzbank. Ihre Rucksäcke haben sie abgelegt, teure Outdoorschuhe dünsten in der Sonne. Die Gruppe zelebriert ihre letzten gemeinsamen Stunden nach fünf Tagen Einsamkeit auf dem Fluss. "Jahrelang sind wir nach Norwegen gefahren. Das war toll. Dieses Jahr Polen. Am Anfang waren alle skeptisch. Doch es war wirklich ... wow!", schwärmt der Jüngste und preist das klare Wasser, die Bachforellen, die unberührten Wälder. Vor dem geistigen Auge kann man sich den beschaulichen Überlebenskampf der Männerwirtschaft zwischen Lagerfeuerromantik und Fischerlatein fernab vom lieblichen Gezeter des heimischen Weibsvolkes gut vorstellen. So unerwartet schön kann Hinterpommerns Hinterland sein.

Auch am Meer jenseits der vollen Strände ist es wundervoll. Östlich von Kolberg kann man auf Tuchfühlung gehen mit der heranschäumenden See, die den schmalen Strand immer wieder zu erobern sucht. Vorbei an verrottenden Holzpfählen, die einst als Wellenbrecher dienten. Gleich hinter dem Radweg, der sich oben auf der Düne am Waldrand entlangschlängelt, scheint es, als werfe man einen Blick in die Steinzeit. Uralte Baumstümpfe modern zwischen jungem Laubwald. Aus dem Unterholz dampft es, während ein diffuser Sonnenstrahl den Weg durch das Dickicht findet und auf brackigem Wasser am Waldboden Lichtpünktchen tanzen lässt. Die Moderne hingegen kämpft mit dem Morgengrauen. Junge Briten irrlichtern über den verlassenen Strand, beseelt von den Nachwehen einer sommerlichen Strandparty.

Kolberg hat in seinem Mehrgenerationenhaus Platz genug: für Alte und Junge, Kleine und Große, Naturburschen und Nachtschwärmer. Historische Bauten, urbaner Frohsinn und maritime Gelassenheit machen es möglich.


Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)

Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com)


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