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"Wir sind auf dem besten Weg in die Vergangenheit"

Die Welt, 17.12.2015


 Auf den ersten Blick sieht Sayada aus wie viele andere tunesische Kleinstädte auch. Im Hafen liegen bunt gestrichene Fischerboote, einfache zweistöckige Häuser säumen die Hauptstraße, an der einige Cafés, die Post und das Rathaus liegen. Doch dann macht das Handy "Pling" und zeigt zwei offene WLAN-Netze an, "Sayada 1" und "Sayada 2". Wer sich verbindet, kann die Webseite der Stadtverwaltung aufrufen. Dort stehen für alle Bürger einsehbar die Sitzungsprotokolle des Gemeinderats, der Haushalt der 12.000-Einwohner-Stadt und Bürgerbefragungen zu aktuellen Themen.


Nach dem politischen Umbruch 2011 hatten in Sayada, rund 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis, wie in vielen anderen Städten des Landes auch, der Bürgermeister und der Gemeinderat aus der Zeit des Diktators Zine al-Abidine Ben Ali ihre Sachen gepackt. Die verschiedenen politischen Kräfte einigten sich darauf, dass der Mittfünfziger Lotfi Farhane die Belange der Kommune in die Hand nehmen sollte. Im Herbst 2011 wurde der Mathematikprofessor ehrenamtlicher Bürgermeister. "Und da habe ich die katastrophalen Finanzen der Stadtverwaltung entdeckt", erinnert er sich. Offenbar hatte seit Jahren niemand mehr die Gewerbesteuern entrichtet.

Auf Vorschlag eines befreundeten Informatikers organisiert der Bürgermeister einen Internetanschluss fürs Rathaus und stellt alle wichtigen Dokumente ins Netz, damit die Bürger ihm glauben, dass die Kassen wirklich leer sind. "Was ihr macht, heißt Open Data, sagte man uns damals," erzählt Farhane. "Ja, gut, dann heißt das halt so, dachte ich mir. Wir haben es einfach gemacht." Vier Jahre später sind die Steuereinnahmen von Sayada um 40 Prozent gestiegen, und der Haushalt ist saniert.

"Alles, was im Rathaus passiert, steht nach spätestens einer Woche im Netz. Jeder weiß, wie viel die Angestellten verdienen und wofür die Steuern ausgegeben werden", schwärmt Hassen Chguiri von der Organisation "Bürgerschaft und Zusammenarbeit", während er im Hafencafé einen Tee trinkt.

Eine der ersten Amtshandlungen von Farhane war die Neugestaltung einer Kreuzung mitten in der Stadt, an der es regelmäßig zu Verkehrsunfällen kam. Die drei Delfine aus Fiberglas, die mitten im Kreisverkehr standen, fand Farhane ziemlich hässlich und wollte sie bei den Bauarbeiten diskret entsorgen. Doch die Bürger beschwerten sich. Der Bürgermeister stellte daraufhin eine Umfrage ins Netz, bei der sich schließlich die meisten für den Erhalt der Delfine aussprachen. "Also haben wir sie halt stehen lassen", sagt er und lacht, als wolle er sagen: So ist das eben mit dieser Demokratie.

Bürgerbeteiligung als Prinzip

Nach der Transparenzoffensive mit Open Data hatte so mit den Delfinen das Prinzip von Open Government in Sayada Einzug gehalten. Die Bewohner wurden regelmäßig befragt, wenn Infrastrukturprojekte oder größere Anschaffungen bevorstanden. "So haben wir zum ersten Mal Vertrauen zwischen den Bürgern und der Verwaltung aufgebaut", erinnert sich Farhane. Denn an Vertrauen in staatliche Stellen mangelt es in Tunesien auch fünf Jahre nach dem Aufstand noch gewaltig.


Einfach mal machen und schauen, was passiert: So sind in Sayada in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft über die letzten vier Jahre viele kleine Initiativen entstanden, die den guten Ruf der Modellstadt begründet haben. Die Stadtverwaltung von Sayada werkelte ehrenamtlich vor sich hin, ohne dass sich die tunesischen Behörden dafür interessierten: Ein Wiki mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt entsteht, das offene WLAN-Netz wird installiert, und ehemalige Bewohner der Stadt, die inzwischen im Ausland leben, sammeln Geld, um der Stadt einen dringend benötigten Müllwagen und einen Kleinbus für die Polizei zu schenken.

Doch die Rückschläge ließen nicht lange auf sich warten. Eine Verwaltungsmitarbeiterin ließ im Jahr 2013 6000 Dinar (rund 2700 Euro) aus der Kasse verschwinden, der Fall wurde angezeigt. Als das Geld mitten im Verfahren wieder auftauchte, wurde sie freigesprochen. "Sie ist die Tochter des lokalen Gewerkschaftsführers", erklärt Farhane, der angewiesen wurde, sämtliche Spuren des Falls zu vernichten. Er habe sogar Drohanrufe aus der Gewerkschaftszentrale erhalten. "Damit war das ganze Vertrauen, das wir aufgebaut hatten, zunichtegemacht", so der Bürgermeister.

Schmutzkampagne der alten Schergen

Farhane stößt seitdem zunehmend auf Widerstand bei der regionalen Verwaltung und einem Teil der Bürger. Im Herbst 2014 wurden in Tunesien in den ersten freien Wahlen ein neues Parlament und der Staatspräsident gewählt. Stärkste Kraft wurde Nidaa Tounes, eine antiislamistische Sammelbewegung aus Liberalen, Gewerkschaftlern und Kräften des alten Regimes. In Sayada holt die Partei bei den Parlamentswahlen rund 70 Prozent der Stimmen. Damit haben die Probleme erst so richtig angefangen, sind sich die Anhänger Farhanes einig.

"Die Mitglieder des alten Regimes haben eine Schmutzkampagne gegen ihn gestartet", berichtet Chguiri. Der Bürgermeister berichtet von Angriffen auf der Straße und sabotierten Stadtratssitzungen. Die Vertreter der Regionalverwaltung, die in Tunesien der verlängerte Arm des Innenministeriums sind, hätten ihm, wo es nur möglich war, Steine in den Weg gelegt. Wichtige Briefe kamen nicht mehr an, Unterschriften ließen auf einmal wochenlang auf sich warten. Ohne Genehmigung aus dem Ministerium will man sich in der Regionalverwaltung von Sayada zum Thema nicht äußern.


Er habe einen Traum gehabt, eine "intelligente Stadt" habe er aus Sayada machen wollen, mit erneuerbaren Energien und modernem Service für die Bürger, erzählt Farhane kopfschüttelnd. "Aber wir haben keinerlei Unterstützung erfahren. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass man sich für unser Projekt interessiert?"

Der Nachname des Bürgermeisters bedeutet auf Arabisch "der Glückliche", doch Farhane empfindet derzeit wenig Glück. Er hat Mühe, seine Wut auf die Behörden zu verbergen. "Die RCD (Regierungspartei Ben Alis) und ihre Methoden kehren zurück. Wir sind auf dem besten Weg in die Vergangenheit." Ende Oktober 2015 traten Farhane und sein Stadtrat schließlich zurück. "Er hat es manchmal ein bisschen darauf angelegt und wollte zu viel zu schnell erreichen", glaubt Walid Kerkeni, ein lokaler Journalist. Trotzdem habe Farhane in seiner Amtszeit einiges erreicht.

Für seine Stadt und sein Land sei er nicht sehr optimistisch, sagt hingegen der frühere Bürgermeister selbst. "Je länger wir den 14. Januar 2011 hinter uns lassen, desto kleiner wird der Freiraum, den wir uns mal erkämpft hatten." Chguiri ist, zumindest was seine Heimatstadt Sayada angeht, ein bisschen optimistischer. "Wenn die Leute hier einen Fehler machen, dann merken sie das meistens ziemlich schnell. Egal, wer jetzt kommt: Er wird es nicht leicht haben, denn er wird sich immer an dem ehemaligen Bürgermeister messen lassen müssen."

Ein neuer Bürgermeister und ein neuer Stadtrat wurden noch nicht ernannt. In der Zwischenzeit führt die Regionalverwaltung die Amtsgeschäfte in Sayada weiter. Kommunalwahlen werden frühestens Ende 2016 stattfinden. Lotfi Farhane hat sich entschieden, nicht anzutreten.

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