Manchmal kommen Einsichten ganz banal daher. Die ZEIT hatte Hamburger Gefängnisse nach ihren Medikamentenbestellungen gefragt, um aus den Wirkstoffen auf die behandelten Krankheiten zu schließen. Zurück kamen Hunderte Seiten mit Tabellen. Nach der Analyse geben sie ein bisher gut gehütetes Geheimnis preis: Die Hamburger Haftanstalten bestellen über die Maßen häufig Antipsychotika, Mittel gegen Wahnerkrankungen.
Solche Psychosen verändern die Wahrnehmung und das Denken, sie schieben sich wie eine Wand zwischen die Kranken und die Wirklichkeit. Kann es sein, dass in den Justizvollzugsanstalten der Stadt viele Menschen leben, die derart schwer psychisch krank sind, dass sie gar nicht so recht verstehen, was dort mit ihnen geschieht?
Die Daten waren der Ausgangspunkt einer Recherche, die in ein überfordertes System führt, das die Häftlinge nicht re-, sondern desozialisiert, das bei ihnen mehr kaputt macht als bessert. Ein System, das vor allem wegsieht und auf diese Weise die Sicherheit der ganzen Stadt gefährdet.
Die kranken HäftlingeDer Datensatz, den die ZEIT auf ihre Anfrage hin erhielt, bezieht sich auf die Jahre 2019 und 2020. Die Tabellen listen Tausende Packungen mit Tabletten und Ampullen auf, bestellt in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis und in den Justizvollzugsanstalten Fuhlsbüttel, Billwerder, Glasmoor und Hahnöfersand.
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Nach einer Auszählung der neun wahndämpfenden Wirkstoffe, die in Deutschland am häufigsten verschrieben werden, ist klar: Bei sieben sind die gekauften Mengen gemessen am deutschen Durchschnitt deutlich erhöht. Schon für das Jahr 2019 fällt das auf, besonders deutlich aber für 2020.
Gegen den Wahn
Ausgewählte Medikamente, Tagesdosis pro Person 2020 (Konservative Berechnung auf Grundlage von Durchschnittsdosen)
Den Rekordwert, eine Erhöhung um das 27-Fache, erreicht der Wirkstoff Olanzapin, ein stark wirksames Medikament gegen Schizophrenie und Manien. Auch Quetiapin mit demselben Einsatzgebiet, aber etwas milderer Wirkung wird häufig bestellt, 16-mal mehr als jenseits der Gefängnismauern. Haloperidol ordern die Anstalten bis zu 15-mal häufiger. Diese Substanz wirkt nicht nur stark, sondern auch sofort, sie ist eine Art pharmakologische Notbremse für Menschen, die nicht anders zu bremsen sind.
Anhand der Zahlen lässt sich ganz grob abschätzen, wie viele Menschen mit Wahnerkrankungen es in den Gefängnissen geben könnte - indem die bevorrateten Mengen in Tagesdosen umgerechnet werden. Demnach haben die Hamburger Gefängnisse im Jahr 2020 rund 62.000 antipsychotische Tagesdosen eingekauft.
Behandlungen mit diesen Stoffen können einige Wochen oder aber Jahre dauern. Mit der eingekauften Menge hätten theoretisch 170 Häftlinge ein ganzes Jahr lang durchgehend behandelt werden können. Monatsweise Therapien wären für bis zu 2030 Häftlinge möglich gewesen. Beides in eine Mischkalkulation gebracht, ergibt: Mehrere Hundert Gefangene könnten wahnhaft sein.
In Hamburger Gefängnissen saßen zum Zeitpunkt der letzten Stichtagszählung Ende März 1793 Insassen. Wie viele tatsächlich psychisch krank sind, vermag die Justizbehörde nicht zu sagen. "Psychische Erkrankungen bei Gefangenen erfassen wir nicht", sagt ein Sprecher. "Grundsätzlich stellt der Justizvollzug nicht die angezeigte Unterbringungsform für psychisch kranke Menschen dar." Aber warum sind sie dann überhaupt hinter Gittern?
So landen sie im GefängnisPsychisch kranke Menschen gehörten eigentlich in ein psychiatrisches Krankenhaus, findet auch die Justizbehörde, weil das ja "speziell auf die Unterbringung und Behandlung ausgerichtet" sei. Doch die normalen Psychiatrien scheiden weitgehend aus, weil ihnen "die Unterbringung nebst erforderlicher Bewachung nicht in das Klinikkonzept passt", teilt die Behörde mit.