Dies alles sind Nachrichten aus Deutschland vom Januar 2018: Die Union fordert die Ausweisung von Zuwanderern, die antisemitischen Hass verbreiten. Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli von der SPD, Tochter palästinensischer Flüchtlinge, verlangt, alle Menschen, die in Deutschland leben, auch Asylbewerber, müssten eine KZ-Gedenkstätte besuchen. Winfried Kretschmann, der baden-württembergische Ministerpräsident von den Grünen, erklärt: "Die Landesregierung wird auch weiterhin für die Sicherheit jüdischen Lebens in unserer Mitte bürgen." Der Bundestag fordert die Regierung mit großer Mehrheit auf, einen eigenen Antisemitismusbeauftragten einzusetzen.
Dies alles sind politische Notfallmaßnahmen. Sie sollen ein Signal aussenden, wenige Wochen nachdem sich etwa 1.200 Demonstranten vor dem Brandenburger Tor versammelt hatten.
Es war der 8. Dezember, ein Freitag. Aufnahmen von jenem Tag zeigen vor allem junge Männer. Viele hatten sich die Kufija um den Hals geschlungen, das schwarz-weiße Tuch der Palästinenser, manche reckten die palästinensische Flagge in die Höhe, einige das Banner der palästinensischen Terrororganisation Hamas. Sie waren hier, um gegen die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump zu protestieren, als Israels Hauptstadt anzuerkennen. Manche riefen auf Deutsch und Arabisch: "Kindermörder Israel" und "Zionisten gleich Faschisten".
Es ist nicht ganz klar, wer die Demonstranten waren. Junge Männer mit arabischen Wurzeln, die in Deutschland aufwuchsen und zur Schule gingen? Flüchtlinge, erst seit Kurzem im Land? Sicher ist nur: Bevor die Polizei die Demonstration auflöste, ging eine selbst gemalte israelische Flagge, blauer Davidstern auf weißem Leintuch, in Flammen auf - und mit ihr die lieb gewonnene Annahme, in Deutschland, dem einstigen Land der Täter, habe der Hass auf Juden keinen Platz mehr.
Die brennende Flagge vor dem Brandenburger Tor hat eine mächtige Debatte angestoßen: Hat Deutschland in den vergangenen Jahren nicht nur Flüchtlinge aufgenommen, sondern auch Antisemiten? Hat die Republik eine neue Judenfeindlichkeit importiert? Davon sprechen unter anderem der CDU-Politiker Jens Spahn, Justizminister Heiko Maas von der SPD und Georg Pazderski von der AfD.
Das Verhältnis Deutschlands zum Judentum ist geprägt vom Holocaust, in dem auf Betreiben der Nationalsozialisten sechs Millionen jüdische Leben ausgelöscht wurden. Heute gibt es Dutzende Gedenkstätten im ganzen Land. In fast allen großen deutschen Städten sind messingglänzende "Stolpersteine" in die Bürgersteige eingelassen, dort, wo einst Juden wohnten, die deportiert und ermordet wurden. Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten gehören das Holocaust-Mahnmal, von Peter Eisenman entworfen, und das Jüdische Museum, von Daniel Libeskind geplant.
Die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, hat die Kanzlerin vor zehn Jahren in der gesagt, dem israelischen Parlament in Jerusalem. Das alles gehört zu einer Erinnerungskultur, auf die viele in der Bundesrepublik stolz sind. Deutschland sah sich gerne als Anti-Antisemitismus-Weltmeister.
Und jetzt das.
Dieses Dossier geht der Frage nach, ob es Deutschland mit einer neuen Art von Antisemitismus zu tun hat. Oder ob da schon länger etwas ist, das nur bisher nicht wahrgenommen wurde. Es untersucht, woher der heutige Antisemitismus kommt, wie gefährlich er ist. Und was man dagegen unternehmen kann.
Reporter der ZEIT haben für diesen Artikel mit Experten gesprochen, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen. Vor allem aber haben sie jüdische Frauen und Männer befragt, alte und junge Menschen, strenggläubige und solche, die sich als Atheisten bezeichnen.
Jüdische Künstler, Handwerker, Ärzte, Schüler aus allen Teilen Deutschlands berichteten von ihren Alltagserfahrungen. Einige freimütig, andere mussten sich überwinden. Manche waren es leid, auf ihre Religion angesprochen zu werden. Andere hätten die schmerzlichen Erinnerungen an Übergriffe lieber ruhen lassen. Nicht wenige, mit denen wir sprachen, hatten Angst: Sie fürchteten, künftig nur noch mehr Beleidigungen, Verletzungen, Angriffen ausgesetzt zu sein, wenn sie sich in der Öffentlichkeit über den Hass äußern, der ihnen immer wieder entgegenschlägt.
Oskar Michalski*, 15, Schüler, Berlin: Als ich auf die Gemeinschaftsschule kam, habe ich schnell Freunde gefunden. Vor allem Tarek*, ein palästinensischer Mitschüler, war am Anfang echt nett. Er hat mich gefragt, ob wir in den Ferien zusammen etwas unternehmen wollen. Dann hat er erfahren, dass ich Jude bin. Er sagte: "Ich ficke Israel. Israel soll brennen." Ich habe nur gesagt: "Ach, echt?" Dann ist er wütend geworden und sagte: "Geh raus, sonst haue ich dich." ...