Die Polizei fährt um sieben Uhr früh vor. Vier Einsatzwagen halten vor dem unauffälligen Wohnhaus in einem mittelständischen Quartier am Rande von Zürich. Beamte in Kampfmontur umstellen das Haus. Einer klingelt, zwei treten ein. Sie kommen mit einem jungen Mann wieder heraus. Er trägt Handschellen. Sie lassen ihn eine Weile stehen, bevor sie ihn in einen der Einsatzwagen bugsieren und losfahren. Nachbarn verfolgen die Szene. Es wird sich herumsprechen.
Der Junge ist gross, schlaksig, wie es in die Höhe geschossene Teenager sind. Sein Blick ist gesenkt. Das Gesicht ist noch das eines Kindes. Widerstandslos lässt er sich abführen. Einen Verbrecher, der das Aufgebot gerechtfertigt hätte, haben die Beamten nicht gefasst. "Aber sie wussten ja nicht, wen sie antreffen würden", sagt der junge Mann später, als wolle er die Polizisten verteidigen.
Der junge Mann, nennen wir ihn Paul, ist zum Zeitpunkt seiner Verhaftung siebzehn Jahre alt. Ihm werden Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen. Er bleibt 24 Stunden in Untersuchungshaft. "Das ist für die meisten ziemlich lehrreich", sagt ein Polizist später Pauls Eltern. Der Jugendrichter, der sich mit dem Fall befasst, wird weniger kriminelle Energie als jugendlichen Leichtsinn erkennen.
Der Jugendrichter verurteilt Paul zu einer Woche Sozialdienst in einem abgelegenen Bergtal. Dort kümmert sich Paul um die Tiere eines alleinstehenden Bergbauern. Der Bauer kommt gut mit Paul zurecht. Er beschreibt ihn als freundlich, umgänglich. Wären nur alle so, die man ihm schicke, sagt er. Er erzählt Paul seine Geschichte - bei einem Erdrutsch hat er einen Teil seiner Familie verloren. Das macht tiefen Eindruck auf den Jungen. Wäre Paul volljährig gewesen, hätte man ihn zweifellos zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Verhaftung, Verurteilung und Strafe stellen den Höhepunkt einer Geschichte dar, die mehrere Jahre zuvor begonnen hat. Paul ist vierzehn Jahre alt. Er geht mit Freunden auf eine Party der Offenen Jugendarbeit. Sie sind dort, um Musik zu hören und abzuhängen. Aber an der Party ist auch Cannabis im Umlauf. Die Kids legen zusammen und kaufen ein wenig Gras. "Von so einem Typen, total überteuert", erzählt Paul. Er lächelt, als würde ihn seine damalige Naivität belustigen. Inzwischen kennt Paul den Wert der Ware.
Damals sitzen sie zu viert in der Gruppe. Einer dreht den Joint, lässt ihn herumgehen. Die Reihe kommt an Paul. Er nimmt ihn. Zieht daran. Es ist sein erster Joint. Er spürt nicht viel, die Wirkung bleibt aus. Das gute Gefühl kommt später, als er das Experiment wiederholt. Wieder ist er in einer Gruppe. "Wir haben einfach nur gelacht", erinnert sich Paul, "alles Negative war wie weggeblasen." So wird es nun immer sein, wenn er Cannabis konsumiert: Er taucht ein in eine Welt ohne Probleme, das Leben wird leicht, die Gefühle sind gross und gut.
Schon bevor er das erste Mal einen Joint probierte, war Paul mit Leuten zusammen, die kifften. Er sei von niemandem gedrängt worden, sagt Paul, es sei allein seine Entscheidung gewesen, den Joint zu nehmen. "Niemand wird gezwungen. Aber die meisten wollen es", sagt er. Er habe aus dem Alltag ausbrechen, etwas Verbotenes tun wollen. Paul ist in der Pubertät. Er ist ganz normal.
Zu Hause bleibt nicht unentdeckt, dass er kifft. Die Eltern reden ihm ins Gewissen. Sie wollen ihn mit Argumenten überzeugen. Paul kontert mit seinen Argumenten. Er verteidigt Cannabis als harmlosen Stoff, der viel weniger schädlich sei als andere Drogen, als Alkohol zum Beispiel. Warum ist dieser erlaubt, Cannabis aber verboten? Ritalin werde in grossem Stil an Kinder verschrieben, und niemand sage etwas. Aber Cannabis ist verboten. Dabei macht es die Menschen besser. Dass der Konsum Auswirkungen auf seine Entwicklung haben könnte, streitet er nicht ab. Aber inzwischen ist aus der Gewohnheit eine Abhängigkeit geworden.
Die nächste Grenze überschreitet Paul mit sechzehn. Er verkauft zum ersten Mal Gras, das er sich mit geborgtem Geld beschafft hat, 50 Gramm. Er verkauft es an Gleichaltrige mit Gewinn. Das Geschäft versorgt ihn fortan mit ausreichend Stoff für den eigenen Konsum. Dieser steigt in ähnlichem Masse wie das Handelsvolumen. Er braucht ihn auch, um den Nervenkitzel zu dämpfen. Die Angst, erwischt zu werden, begleitet ihn bei jedem Deal.
Cannabis wandert nicht direkt vom Produzenten zum Kunden, sondern durch die Hände einer Reihe von Zwischenhändlern. Am Anfang gehört Paul zu den kleinen Fischen ganz unten in der Nahrungskette. Aber er ist geschäftstüchtig und clever, arbeitet sich hoch und baut sich sein eigenes Netzwerk auf. An einem Punkt seiner Karriere als Cannabishändler verkauft er auf einen Schlag Stoff im Wert von 21 000 Franken. Das Geld nimmt er bar auf die Hand entgegen, in Tausendernoten. "Das war der Höhepunkt", sagt Paul. Das Geld ist eine ebenso starke Droge wie das Cannabis. Paul gewöhnt sich daran, dass es leicht zu verdienen ist.
Ein Jahr später ändert sich sein Leben radikal. Für die Schule hat er keine Zeit mehr. Vor allem aber hat er keine Lust mehr. Seine Noten verschlechtern sich markant. Seinen Eltern sagt er, er sehe keinen Sinn mehr in dieser Art der Schulbildung. Das System lehnt er ab, er sieht darin einen gesellschaftlichen Zwang, dem er sich widersetzen will. Er wolle nicht dasselbe Leben führen wie sie, sagt er den Eltern, ein Leben, das nur aus Arbeit bestehe. Er wolle sein Leben geniessen, Fun haben. Er träumt davon, auszusteigen, in einer Kommune wie Christiania in Dänemark zu leben. Oder noch besser wäre es, nach Goa zu reisen. Aber Paul liebt auch die Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens, heisse Duschen, sein grosses Bett. Eines Morgens bleibt er einfach liegen. Er geht nicht mehr zur Schule.
Paul führt ein Doppelleben. In der Welt seiner Eltern bleibt er der junge Mann, den man als freundlich und zuvorkommend kennt, der seine Standpunkte engagiert verteidigt. Er durchläuft eine Krise, eine schwere Krise, ja. Aber man verliert den Glauben an ihn nicht. Paul bleibt Teil der Familie, er nimmt an den Festen teil, sitzt am Familientisch. Dort fliessen nach langen Diskussionen oft Tränen.
Paul ist am Ende seiner Kräfte, er ist dünnhäutig. Sein Zustand hängt mit dem inzwischen massiven Cannabiskonsum zusammen. Von seinen Aktivitäten als Dealer ahnt niemand etwas. Paul sammelt auch Erfahrungen mit anderen Drogen. Immerhin tut er dies nicht blindlings. Er weiss Bescheid, kennt die Wirkung der Stoffe. Von Heroin lässt er die Finger. "Ich hätte auch niemals damit gehandelt", sagt er.
Paul sieht sich moralisch als unbefleckt. "Cannabis macht die Menschen besser", wiederholt er beinahe wie ein Mantra. Tatsächlich laufen die Geschäfte immer friedlich ab, und wer genügend Stoff besitzt, teilt zuweilen mit den andern. Paul bewegt sich in seinem Kreis wie ein Robin Hood, aber einer, der auf grossem Fuss lebt. Er wird zum Stammkunden bei einem Edelconfiseur und lässt sich im Taxi durch die Gegend chauffieren. Das Geld sitzt locker. Am Ende wird nichts davon übrigbleiben. Vor allem der eigene Cannabiskonsum lässt das Geld in blauem Dunst aufgehen. Paul kauft sich nichts, was ihn verraten könnte. Zu Hause feilscht er weiterhin um jeden Franken. An Weihnachten und zum Geburtstag lässt er sich Banknoten zustecken.
In seinem Handy stecken unregistrierte SIM-Karten, die er sich in einem Kiosk mitten in der Stadt beschafft hat. Er braucht sie, damit er bei seinen Geschäften keine Spuren hinterlässt. Den Kumpel, mit dem zusammen er die Deals abwickelt, nennt er seinen Geschäftspartner. Mit ihm surft er im Darknet und träumt von noch grösseren Coups, von einer Zukunft allein auf der Grundlage von Drogen. Fernsehserien wie "Breaking Bad" liefern die Vorlage für solche Träume.
64 000 Franken für acht Kilo CannabisWieder überschreitet Paul eine Grenze und schliesst erstmals Bekanntschaft mit Menschen, die das Cannabis nicht besser gemacht hat. Sie kündigen sich mit einem verlockenden Angebot an: 64 000 Franken für acht Kilo Cannabis. Es ist Pauls Geschäftspartner, der den Vorschlag erhält. Paul ist skeptisch. Der Preis ist viel zu hoch. Sie sind deshalb vorsichtig, beschaffen zunächst nur zwei Kilo. Den Stoff bekommen sie von ihrem Lieferanten auf Pump. Bezahlen sollen sie, wenn sie kassiert haben.
Sie lassen einen Dritten den Kurier spielen, einen Erwachsenen in den Zwanzigern. Mit dem geliehenen Cannabis steigt dieser in einen Mercedes ein. Die Männer, die ihn fahren, sind Schwarze. "Die Schwarzen vom See", nennt sie Paul. Mit dem Kurier fahren sie in den Wald. Statt die Ware zu bezahlen, halten ihm "die Schwarzen vom See" eine Pistole an den Kopf. Sie nehmen ihm den Stoff ab und werfen ihn aus dem Wagen.
Mit der heilen Cannabiswelt ist es vorbei. Der Schrecken sitzt tief. Obwohl Paul nicht selbst im Wagen sass, hängt er mit drin. Er und sein Partner haben jetzt Schulden bei ihrem Lieferanten. Die können sie nur bedienen, wenn Geld aus einer anderen Quelle reinkommt. Ein Teufelskreis tut sich auf.
Am Ende ist es nicht das Cannabis, das die Polizei auf den Plan ruft. Paul fliegt wegen einer Lieferung Amphetamine auf, die er sich aus dem Ausland bestellt hat. Als die Handschellen zuschnappen, rasen die Gedanken in Pauls Kopf. Er empfindet aber auch Erleichterung. Es war für ihn keine Frage mehr, ob er geschnappt würde, sondern wann. "Ich hätte mich stellen sollen", sagt er. Dann hätte er natürlich nur das geringste Delikt gestanden. "Das machen viele, um aus dem Schneider zu kommen", sagt Paul. Er muss sich nun wegen weit Schwererem als Handel mit Cannabis verantworten. Er akzeptiert seine Strafe. Aber seine Geschäftspartner verrät er nicht. Ehrensache. Die Schulden bei seinem Händler bezahlen am Ende die Eltern.
Heute, zwei Jahre nach seiner Verhaftung, geht Paul wieder zur Schule. Er schreibt gute Noten. Die Universität ist sein Ziel. Fast täglich verspricht er seinen Eltern, nicht mehr zu dealen. Er weiss, dass er das Vertrauen, das er verspielt hat, wieder aufbauen muss. Es wird lange dauern. Ganz ohne Cannabis kann und will er aber nicht leben. Doch er hat die Menge drastisch reduziert. Das war nicht einfach.
Seine Karriere als Dealer ist auch in anderer Hinsicht nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Die Verlockung des schnellen Geldes ist gross. Ehrliche Arbeit ist wenig attraktiv. Aber Paul will dennoch nicht rückfällig werden. Er wolle nicht ins Gefängnis, sagt er. Vor allem aber wolle er all das Erlebte seiner Familie kein zweites Mal antun. Wegen der Familie, beteuert er, habe er mit dem Dealen aufgehört.
Doch Paul bleibt ein eiserner Verfechter der Legalisierung von Cannabis, was in einem gewissen Widerspruch zur Dealerlogik steht. "Eine Legalisierung würde das Geschäft verderben. Doch dann könnte sich der Staat anstatt auf die Jagd nach Dealern ganz auf die Prävention konzentrieren", sagt Paul.
Ronald Schenkel ist Journalist; er lebt in Zürich.