Joe Biden hat die Wahl nicht zuletzt dank der Vorstädte gewonnen. Dies liegt auch an Aktivistinnen wie Lori Goldman. Sie und ihre Mitstreiterinnen wollen mehr als ein Ende der Trump-Präsidentschaft: "Wir sind noch lange nicht fertig."
Von Roland Peters, Oakland County (Michigan)
Auf einer Veranda sitzen zwei Frauen und trinken billiges Bier. Es dauert nur ein paar Minuten, bis die Unterschiede zwischen den beiden 22-Jährigen deutlich werden. "Ich will nicht, dass mir jemand meine Waffen wegnimmt", sagt die eine. "Ich habe Angst, dass sie meinen Freund zurück nach Mexiko schicken", die andere. Es ist Sonntagnachmittag in Detroits Vorstadt Pontiac, gestern haben US-Medien Joe Biden zum Sieger erklärt.
Jessica Angus hat, wie schon vor vier Jahren, Donald Trump gewählt. Auch wegen der Wirtschaft. In der Pandemie hat die junge Frau ihren Job als Babysitterin verloren. "Wir brauchten keine Politiker mehr", sagt sie, guckt in Richtung des Autowracks auf dem löchrigen Asphalt und zündet sich eine Zigarette an.
Jessica und ihre Freundin Kaitlyn Pearsall sprechen darüber, wie sie derzeit über die Runden kommen. Ein paar Stunden im Café, ein paar im Museum, ein bisschen Hilfe vom Staat und vor allem die Sonderzahlung zu Beginn der Pandemie, auf der Trumps Unterschrift prangte. 1200 US-Dollar waren das. "Ich habe für Biden gestimmt. Aber du hast schon recht, Obama hat in der Finanzkrise 2008 niemanden gerettet", sagt Kaitlyn.
Die US-Präsidentschaftswahl entschieden hat die "blue wall", die blaue Mauer der Demokraten, bestehend aus drei umkämpften Bundesstaaten: Pennsylvania, Wisconsin und Michigan, an dessen östlichem Rand Detroit mit seinen weitläufigen Vorstädten liegt. Die ländlichen USA haben sich mehrheitlich für die Republikaner entschieden, die Städte für die Demokraten. Entschieden wurde die Wahl auch von den Frauen. Männer haben mehrheitlich Republikaner gewählt, aber weit mehr Frauen die Demokraten. Einen Unterschied macht das vor allem in den Suburbs, den Vorstädten, dem Bindeglied zwischen Stadt und Land. In Michigan gewannen Joe Biden und Kamala Harris mit 2,6 Prozentpunkten Vorsprung, das waren rund 150.000 Stimmen. Knapp 110.000 Stimmen Differenz waren es allein im Wahlkreis Oakland County.
Vom kleinen Stadtzentrum Detroits führen die Straßen sternenförmig weg, fast wie mit dem Lineal gezogen. Die Traversen in Richtung Norden sind ab 7 Mile nach der Entfernung benannt. Nach 8 Mile ist man in Oakland County. Einfamilienhaus reiht sich an Einfamilienhaus, goldbraunes Laub legt sich wie eine Decke über die Vorgärten. Zusammengefegte Laubhügel machen manche Wohnstraße zum Hindernisparcours. Von den Frauen in Michigan haben sich 20 Prozent mehr für Biden entschieden als für Trump, haben Nachwahlbefragungen ergeben. Das sind 5 Prozent mehr als landesweit. Wer sie hier mobilisiert hat, bei denen kann sich der künftige US-Präsident bedanken.
Weibliche BewegungZwölf von ihnen sitzen in der Vorstadt Birmingham zusammen. Es ist Montagabend, die "Fems for Dems" feiern im Restaurant "Elie's" ihren Erfolg. Es wird gelacht und angestoßen, Geschenke und libanesisches Essen steht auf den zwei Tischen. Manche von ihnen lernen sich erst heute persönlich kennen. "Ich kann es immer noch nicht glauben", sagt Julie Campbell-Bode. Sie hätten fast das ganze Jahr telefoniert, an Türen geklopft, Nachbarn überzeugt, warum sie für die Demokraten stimmen sollen. Wütende Bewohner hetzten Hunde auf sie, vertrieben sie mit Baseballschlägern und beschimpften sie lauthals als Kommunistinnen. Julie Campbell-Bodes Wahlkampftrophäe ist eine Bisswunde am Bein. Aber auch das Ende dieser Präsidentschaft. "Ich hätte auch für den Straßenpoller da hinten gestimmt, wenn er nicht Trump geheißen hätte", sagt sie.
Keine von ihnen wollte ursprünglich Biden als Kandidat sehen. Die wirtschaftliche Angst durch den technologischen Wandel in der Region, den habe außer Trump nur der Demokrat Bernie Sanders für sich zu nutzen gewusst, sagen die Frauen. Der linke Senator aus Vermont hatte 2016 bei den Vorwahlen in Michigan gesiegt - danach verlor Hillary Clinton gegen Trump. Dessen abwertendes Verhalten gegenüber Frauen sowie der Muslim-Bann zu Beginn seiner Präsidentschaft trieb fast alle Anwesenden in die Politik. "Das war zu Beginn vor allem ein Wutventil", sagt eine. Sie seien "aufgewacht", berichten mehrere. "Ich wollte Gemeinschaft", eine andere. Sie fanden sie in "Fems for Dems".
Gegründet 2016, sind inzwischen 9000 Frauen im ganzen Bundesstaat so organisiert, davon 800 aktive Wahlkämpferinnen. Sie schulen sich gegenseitig; wie sie argumentieren, ihre Scham überwinden, an Haustüren klingeln oder einfach nur eine unbekannte Telefonnummer anrufen. "Es geht auch darum, der anderen Selbstbewusstsein zu geben", sagt Julie Campbell-Bode: "Dass sie ihrem Ehemann Widerworte geben kann oder einfach nur sagt, wenn sie etwas nicht möchte." Die anderen nicken zustimmend.
Digitalisierung und WählerwandelEs ist kein Zufall, dass die Frauen ihren Erfolg in einem libanesischen Restaurant feiern. Im Großraum Detroit leben rund 200.000 arabischstämmige Menschen, manche sagen, nirgendwo außerhalb des Nahen Ostens seien es mehr. Sie kamen vor einem Jahrhundert, um in den Autofabriken der "Motor City" zu arbeiten. Ebenso war es bei den Afroamerikanern, die aus dem Süden kamen. Detroit hat die größte schwarze Bevölkerung der USA, sowohl in absoluten als auch relativen Zahlen, es sind mehr als 80 Prozent. Fast alle wählen Demokraten. In den Vorstädten wohnten früher fast nur Weiße, aber das hat sich geändert.
Inzwischen werden in Oakland County etwa ein Viertel anderen ethnischen Gruppen zugeordnet. Sie sind neben den Frauen ein weiterer Grund dafür, dass die Demokraten immer mehr Anhänger in den Suburbs finden. Es sind beispielsweise zugezogene Fachkräfte von Autozulieferern, die sich mit fortschreitender Digitalisierung der Industrie hier angesiedelt haben. Die Mitarbeiter sind besser gebildet und haben andere ethnische Hintergründe. Bei Fahrten durch die Wohnstraßen sind die häufigsten Vorgartenschilder nicht wie sonst Kandidatennamen, sondern zeigen politische Positionen an. "Frauenrechte sind Menschenrechte", das ist besonders oft zu lesen. So gehen demografischer Wandel und Wahlverhalten Hand in Hand.
Im Großraum Detroit werden Autos für die ganze Welt gebaut; General Motors, Ford und Fiat Chrysler haben hier ihre Fabriken. "Früher sahen die Arbeiter aus, als kämen sie aus einer Kohlemine", sagt John Bedz bei Automation Alley, ein Technikhub in der Vorstadt Troy, der hiesige Start-ups mit den Autokonzernen vernetzt. "Wenn mein Vater aus der Fabrik kam, waren seine Hände schmutzig und seine Arbeitskleidung musste er vor dem Haus ausziehen", erinnert er sich. Jetzt hilft der 56-jährige Berater kleinen Firmen, die Industrie zu digitalisieren. Er hält beide Hände in die Höhe: "Meine sind sauber."
Folge von VersäumnissenVersäumnisse des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und die extreme Polarisierung in den vergangenen vier Jahren haben nicht nur die "Fems for Dems" wütend gemacht. Während in Washington D.C. die Parteispitzen der Demokraten sich in Muskelspielen zwischen Kongress und Weißem Haus verloren, mobilisierte sich die Basis. Die Erfolge linker Politiker bei den Zwischenwahlen 2018 waren erste sichtbare Ergebnisse; die bekannteste von ihnen ist die New Yorkerin Alexandria Ocasio-Cortez. Unter dem Hashtag #metoo wurde jahrzehntelanges Schweigen über Belästigung und Missbrauch von Frauen gebrochen. Das Sunrise Movement gegen den Klimawandel formierte sich. George Floyds Tod elektrisierte "Black Lives Matter" im Kampf gegen systemischen Rassismus. All diese Themen stehen nun auch auf Bidens und Harris' Agenda.
Bei der Anti-Rassismus-Beraterin Lauren Hood in Detroit rufen seither exponentiell mehr Interessenten an. Unter anderen sind es Konzerne, die Seminare für ihre Führungskräfte anbieten wollen, erzählt sie am Telefon. Andere möchten einfach nur einen Vortrag, warum Weiße Teil des Problems sein könnten: "Das ist keine moralische Motivation, sondern dafür, was unter dem Strich steht", zeigt sie sich skeptisch. Es gehe darum, keine Käufer zu verlieren. "Hinter verschlossenen Türen machen sie trotzdem, was sie wollen", sagt Lauren Hood, die selbst schwarz ist. Auf politische Entscheidungen bei weißen Vorstädtern habe ihre Arbeit nur langfristige Effekte, schätzt sie. Sogar Afroamerikaner in Führungspositionen drängten nicht auf mehr Gerechtigkeit, weil sie den Verlust hart erkämpfter Privilegien fürchteten. Viel effektiver sei der Druck von der Straße.
Im Restaurant in Birmingham werden die Teller abgeräumt, die Gläser leeren sich. Da hebt "Fems for Dems"-Gründerin Lori Goldman ihre Stimme. Alle hören zu, es geht um die nächsten Schritte. Sie finde es zwar gut, dass Kamala Harris Vizepräsidentin werde, sagt die 61-Jährige: "Aber das ist nur eine Maus, die sie uns vor die Nase halten." Früher habe sie so gewählt, wie ihre Männer es ihnen gesagt hätten. "Jetzt sammle ich Kontakte statt Designerhandtaschen." Es gehe trotz aller Freude darum, den Senat über die Nachwahl im Bundesstaat Georgia zu erobern. Dafür wollen die Frauen bis Januar 100.000 Postkarten in den Süden verschicken. "Wir sind noch lange nicht fertig", sagt Lori Goldman.
Quelle: ntv.de