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Chiles Kirchenelite droht der Fall

Kardinal Ricardo Ezzati ist Erzbischof von Santiago de Chile. (Foto: REUTERS)

Dutzende Bischöfe, die ihren Rücktritt anbieten. Polizei, die Razzien in Gotteshäusern durchführt. Der Skandal um sexuellen Kindesmissbrauch in Chile erreicht die Spitze der katholischen Kirche. Oberhaupt Ezzati soll die Taten vertuscht haben.

Von Roland Peters

Wenn ganz oben einer den Halt verliert, kann er andere mit in die Tiefe reißen. Am Treppenabsatz in Chile, da steht derzeit noch Kardinal Ricardo Ezzati. Das katholische Kirchenoberhaupt soll jahrelang von sexuellen Missbrauchsfällen seiner Kirchenvertreter gewusst und sie gedeckt haben. Die Staatsanwaltschaft hat den Geistlichen deshalb zu einer Aussage vorgeladen. "Ich bin überzeugt, dass ich nie etwas vor der Justiz verborgen habe", teilte der 76-Jährige in einer ersten Reaktion mit. Würde der Kardinal angeklagt und wegen Vertuschung verurteilt, könnte er bis zu fünf Jahre ins Gefängnis gehen, sagt der ermittelnde Staatsanwalt.

Mit Ezzatis Vorladung nimmt der Skandal in der katholischen Kirche Chiles fast maximale Ausmaße an. Denn er ist nur ein einflussreicher Geistlicher, der in Fälle aus vielen Jahrzehnten direkt oder indirekt verwickelt sein soll. Rund 24 Stunden vor der Aufforderung an Ezzati hatten die Ermittler etwas zuvor Undenkbares getan: einen Bericht veröffentlicht, der alle bekannten sexuellen Missbrauchstaten von Kirchenvertretern seit dem Jahr 1960 enthält und alle offenen Fälle seit 2000. Erst im neuen Jahrhundert hatte Chile ein Rechtssystem mit einer von Gerichten unabhängigen Staatsanwaltschaft eingeführt.

Der Übersicht des verantwortlichen Ministeriums zufolge wird derzeit gegen insgesamt 158 Personen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch ermittelt, davon sind 139 Kirchenvertreter; insgesamt 74 Bischöfe, Priester und Diakone. Sie sollen sich an 266 Opfern vergangen haben, von denen 178 minderjährig waren.

Schlüsselfall Karadima

Die nun veröffentlichten Fälle konzentrieren sich vor allem auf die südliche Region Biobío um die Stadt Concepción, die zentrale Hafenmetropole Valparaíso sowie die Hauptstadt Santiago. Der dortige Fall des Priesterausbilders Fernando Karadima in der Gemeinde "Jesus' heiliges Herz", Sagrado Corazón de Jesús, begann mit ersten Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs bereits im Jahr 2003. Verurteilt wurde er 2011. Der Fall ist der Schlüssel für die derzeitige juristische Aufarbeitung, weil er den Heiligen Stuhl zu einem Schuldspruch nach Kirchenrecht brachte. Viele Geistliche, gegen die nun ermittelt wird, sollen Karadimas Taten vertuscht haben.

Erst in diesem Jahr wurde jedoch deutlich, welche Ausmaße der Missbrauch der Kirchenvertreter Chiles haben könnte. Es begann mit dem Besuch des Papstes in Chile im Januar. Auf offener Straße wurde Franziskus mit Vorwürfen gegen den chilenischen Bischof Juan Barros konfrontiert, von Opfern und einem Journalisten. Der Papst nahm Barros ihn in Schutz und forderte "Beweise". Schließlich hatte er selbst ihn im Jahr 2015 trotz bekannter Vorwürfe zum Bischof von Osorno gemacht. Es folgte ein Aufschrei der Entrüstung. Ein Opfer twitterte zynisch: "Als wenn ich ein Selfie hätte machen können, während Karadima mich missbrauchte und Juan Barros danebenstand und zuguckte."

Unverständnis für die Äußerung kam auch aus der Kirche selbst. Der Sonderbeauftragte des Vatikans gegen Missbrauch, US-Kardinal Sean O'Mally, kritisierte den Papst. Der entschuldigte sich schließlich, kündigte eine Untersuchung an und schickte einen Ermittler nach Südamerika. Doch Roms Entsandter stieß auf Schweigen und Ausflüchte, ein über Jahrzehnte perfektioniertes System der Vertuschung.

Irgendwann hatte der Papst genug. Er warf der gesamten chilenischen katholischen Kirche "fehlende Transparenz" vor. Daraufhin reisten im Mai alle 34 chilenischen Bischöfe nach Rom. Drei Tage lang sprachen sie mit Franziskus. Dann boten sie geschlossen ihren Rücktritt an. Der Papst akzeptierte unter anderen den des Bischofs Barros.

Ezzatis rechte Hand in Haft

Was die Ermittler über Chiles Kirchenoberhaupt Ezzati wissen, ist unklar. Aber sie haben bereits seinen ehemaligen engen Mitarbeiter Ricardo Muñoz in der Mangel. Der einflussreiche Priester des Erzbistums Santiago soll nicht nur Taten anderer gedeckt, sondern auch selbst Hand angelegt haben. Vor zwei Wochen wurde er wegen Missbrauchs angeklagt. Bis Januar war er im Amt, also in dem Monat, als Franziskus' Besuch und kirchliche Ermittlung die chilenische Staatsanwaltschaft ermutigte, auch zivil gegen die Geistlichen vorzugehen.

Muñoz befindet sich bereits seit Monaten in Verwahrung. Ein wichtiger Baustein des Vertuschungssystems ist damit wohl entfernt: Wurde ein Missbrauchsfall bei der Kirche angezeigt, betreute ihn eben jener Muñoz. Der verantwortliche Staatsanwalt sagte: "In Ausübung seines Amtes wusste er, was zu tun war, was nicht zu tun war und wie er sich verhalten musste, damit er einer Bestrafung aus dem Weg gehen konnte."

Etwa zwei Drittel der 17,5 Millionen Einwohner Chiles sind katholischen Glaubens. Auch wenn das Land am durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen gemessen zu den wohlhabenden Staaten Lateinamerikas gehört und wirtschaftsliberal orientiert ist, das Land ist bei religiösen Fragen konservativ. So war es bis ins Jahr 2004 illegal, eine Ehe zu scheiden. Abtreibungen sind erst seit vergangenem Jahr und nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt. Nicht ohne Grund fühlen sich chilenische Staatsanwälte derzeit genötigt, zu betonen, sie würden nicht gegen die katholische Kirche an sich, sondern nur gegen die Verbrechen ihrer Vertreter vorgehen.

Die von den Ermittlungen ausgelöste Dynamik ermutigt die chilenischen Behörden dazu, sich mutiger in vermeintlich kirchliche Belange einzumischen. Als Anfang Juni wegen des Missbrauchskandals zwei Sondergesandte des Heiligen Stuhls in Chile eintrafen und bei der Ankunft "im Namen des Papstes um Vergebung" baten, klang das wie ein Schuldeingeständnis aus Rom. Direkt danach schickte die chilenische Staatsanwaltschaft die Polizei zu Razzien in Kirchenarchive und ließ dort nach Beweisen suchen. Ein "Meilenstein" sei das gewesen, sagte der verantwortliche Staatsanwalt. Bis dahin waren Zivilbehörden nicht gegen Kirchenvertreter vorgegangen, erst recht nicht gegen ihr Oberhaupt. Das hat sich jedoch geändert - und Ezzati will sich am 21. August zu den Vertuschungsvorwürfen äußern. Der Kardinal am Treppenabsatz, er kippelt.

Quelle: n-tv.de


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