n-tv.de: Was denken Sie über den Friedensprozess?
Maria*: Am Anfang habe ich nicht daran geglaubt, dass die Führung der Farc wirklich Frieden wollte. Aber die einfachen Soldaten wollen nicht mehr kämpfen. Sie haben jetzt eine Perspektive auf ein anderes Leben, die hatten sie zuvor nicht. Deshalb wollen sie weg. Dass die Guerilla die Waffen niederlegt, beruhigt mich persönlich, das muss ich zugeben.
Wie sind Sie zur Farc gekommen?Ich war sehr jung, 17 Jahre alt und ich fing grade an zu studieren. Ich habe wie meine Freunde sehr viel gelesen, auch über gesellschaftliche Themen, soziale Probleme. Ich fand die Positionen und Ziele der Farc damals nachvollziehbar, heute kann ich das gar nicht mehr so richtig erklären.
Wie kam Ihr Kontakt zur Guerilla zustande?Über Freunde, die ich in der Universität kennengelernt hatte. Viele hatten Verbindungen in die Politik, auch zu Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Und manche hatten eben mit der Farc zu tun. Ich habe erst kleine Aufgaben ausgeführt, nach und nach immer mehr. Meine Universität war in Popayan in der Provinz Cauca. Ich ging direkt nach der Schule dorthin, war weit weg von meiner Familie, allein und sehr jung. Es gab viele einflussreiche Lobbygruppen von Bauern, Gewerkschaften und andere Interessensgruppen. Ich rutschte langsam in die Farc hinein, lernte die Organisation Stück für Stück kennen. Irgendwann war sie mein soziales Netwerk.
Wie war Ihre Einheit strukturiert?Fast wie eine staatliche Armee, aber noch strenger. Die meisten Mitglieder meiner Einheit waren Bauern. Aus Sicherheitsgründen gab es kaum persönliche Freiheiten.
Warum fühlten Sie sich von der Farc angezogen?Am Anfang war die Idee, so für seine Überzeugungen zu leben, reizvoll. Ich habe gelernt, mit Waffen umzugehen, weite Strecken mit schwerem Gerät zu laufen, mich nachts ohne Licht zu orientieren und zu marschieren. Aber das Leben im Dschungel ist extrem hart. Der Tod durch die kolumbianische Armee lauerte hinter jedem Baum. Nachts mussten wir durchnässt Wache halten, es regnete die ganze Zeit.
Wie haben Sie sich daran gewöhnt?Am Anfang war es für mich als Frau körperlich sehr schwierig. Wir hatten auch Kinder dabei, die waren 14, vielleicht 15 Jahre alt. Die Männer hatten weniger Probleme.
Wie haben Sie es geschafft, Ihre Einheit zu verlassen? Sie haben ja bestimmt nicht eines Morgens Ihre Sachen gepackt, Ihren Kameraden gewinkt und sind gegangen.Neun Jahre war ich dabei und habe die Farc 2009 verlassen. Es war eine schwierige Zeit. Zuvor hatte ich lange darüber nachgedacht. Aber wir waren im Dschungel. Ich konnte mit niemandem darüber reden, ich konnte niemanden anrufen, es gab keine Kommunikation nach außen. Die Entscheidung habe ich dann nur für mich getroffen.
Was war der Punkt, an dem Sie gesagt haben: Ich will das nicht mehr?Es gab mehrere Dinge, die mich dazu gebracht haben. In den ersten Jahren war alles in Ordnung. Ich hatte mich an das harte Leben gewöhnt, an die Disziplin, sogar an die Bestrafungen. Irgendwann bemerkte ich: Was auf der einen Seite gesagt wurde, entspricht nicht dem, was wir tun. Nach außen betonten unsere Anführer die Bedeutung der Menschenrechte, missachteten sie aber sogar bei den Farc-Kämpfern, die sie befehligten. Es war die Zeit, als Uribe (Präsident Kolumbiens 2002 bis 2010, Anm.d.Red.) seine Militäroperationen verstärkte. Die Armee war überall und wir mussten uns in den Dschungel zurückziehen, drei Jahre lang. Bei uns wurden die Regeln strikter, wir durften kaum noch etwas selbst entscheiden. Die Stimmung war sehr angespannt. Die Kämpfer beschuldigten sich gegenseitig, für die Regierung zu arbeiten. Die Aussagen unserer Vorgesetzten widersprachen sich teilweise.
Gab es auch persönliche Gründe?Ja. Ich habe diese Geschichte noch nie erzählt, aber jetzt scheint es die richtige Zeit zu sein. Als wir uns in den Dschungel zurückgezogen hatten, wurde ich schwanger. Ich war im vierten Monat, als ich es bemerkte. Ich war meinen Vorgesetzten völlig egal. Es war unmenschlich. Ich musste tagelang laufen und marschieren, manchmal gab es ebenso lange nichts zu essen. Dann wurde ich krank.
Überlebte das Kind?Es kam zu früh. Eines Nachts, nach einem langen Marsch, gebar ich es unter freiem Himmel auf einem Stück Plastikdecke. Es war eine Totgeburt. Ich packte es in eine Tüte und verscharrte es. Ich blutete die ganze Nacht. Niemand kam, um nach mir zu sehen, niemand fragte mich am nächsten Tag, wie es mir ging. Absolut nichts. Welche Art Menschen sind das, die überhaupt kein Feingefühl haben und gleichzeitig Menschenrechte predigen? Das war der Moment, an dem ich sagte: Nein, ich muss hier weg.
Wie lange dauerte es, bis Sie fliehen konnten?Drei Jahre. Niemand durfte Verdacht schöpfen, also war ich fleißig, diszipliniert, so wie immer.
Wie konnten Sie Ihren Entschluss umsetzen?Es gab ein kleines Dorf, wohin wir mit einer kleinen Gruppe Soldaten gingen, um politische Arbeit zu machen, mit den Menschen dort zu reden. Niemals zuvor war ich bei so etwas dabei. Wir blieben über Nacht und ich eine Stunde lang allein. Zwei Wochen zuvor hatte mir ein Mädchen ein Telefon gegeben. Das war eine einmalige Gelegenheit. Da habe ich meine Familie angerufen. Ich habe sie gebeten, mir dabei zu helfen, zu fliehen. Sie haben die Polizei und die Armee kontaktiert, um herauszufinden, welche Möglichkeiten es gibt.
Und dann?Das Militär hat mich direkt angerufen, ich nahm ab und sie fragten mich, wie es mir ginge, wo ich mich befände. Ich hatte riesige Angst. Ich wusste ja nicht, was die Armee mit mir machen würde, weil ich nichts von den Aussteigerprogrammen wusste. Der Mann am Telefon sagte mir: Denk darüber nach. Wenn du fliehen willst, werden wir dir nichts tun, sondern helfen. Sie nannten mir einen weit entfernten Ort, wo sie mich auflesen würden. Es war schrecklich, weil ich nicht wusste, ob ich das glauben sollte. Was ich aber wusste, war: Wenn ich abhaue, würde mich die Farc überall suchen.
Wie sind Sie weggekommen?Ich bin in völliger Angst gelaufen, nur gelaufen, fünf Stunden lang, in kompletter Dunkelheit am Rande einer Straße. Ich kannte das Dorf, wo sie mich abholen wollten. Vor allem hatte ich Angst, dass mich die Armee belog. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich so um mein Leben gefürchtet.
Was war das Erste, das Sie getan haben, nachdem Sie geflohen waren?Nach Jahren im Urwald ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt musste ich zunächst eine ganze Reihe von rechtlichen Dingen regeln. Ich wurde von der Armee befragt, ich wurde als Zivilistin registriert. Meine Emotionen spielten völlig verrückt. Aber ich war glücklich, weil ich Kontakt zu meiner Familie hatte. Ich wusste nicht, was ich tun würde, aber das war mir egal. Ich absolvierte mehrere Monate in einem Wiedereingliederungsprogramm.
Sie haben keine neue Identität erhalten. War das nicht gefährlich?Ja, es war gefährlich. Als ich im Alter von 30 Jahren wieder anfing, zu studieren, war das schon etwas komisch. Meinen Kommilitonen habe ich 1000 unterschiedliche Geschichten erzählt, warum. Jetzt bin ich Anwältin in Wirtschaftsrecht.
Wie fühlen Sie sich jetzt?Tagsüber beschäftige ich mich ständig mit anderen Dingen, bin unterwegs oder lerne, so dass ich nicht an die Vergangenheit denken muss. Aber meine Träume kann ich nicht kontrollieren. Sie kommen jede Nacht. Häufig sind es Albträume, dass die Farc mich sucht und findet.
Mit Maria (*Name von der Redaktion geändert) sprach Roland Peters
Quelle: n-tv.de