An Kolumbiens Pazifikküste füllen bewaffnete Gruppen das von der Farc-Guerilla hinterlassene Vakuum. Eine verlorene Generation wächst heran.
Von Roland Peters, Chocó
Durch den Bindfadenregen wird ein riesiges Floss sichtbar, das an ein Fabelwesen erinnert. Es schwimmt an der dichten Böschung des Río Atrato, darauf ein monströser Aufbau, mit Dach, Motor und Abgasrohr, Förderband und einem Bagger. Dragones werden sie in Kolumbien genannt. Die Drachen fräsen das Ufer ab, waschen das Gold aus der Erde und schaufeln den Abraum samt Chemikalien ins braune Wasser. Die tödliche Verschmutzung geschieht für alle sichtbar auf dem Hauptverkehrsweg im Nordwesten des Landes.
Der Río Atrato im Departement Chocó ist die Hauptroute der illegalen Wirtschaft zwischen der Provinzhauptstadt Quibdó und dem Golf von Urabá. Im Süden fliessen der Río Baudó und der Río San Juan zum Pazifik. Im kaum erschlossenen Departement schmuggeln bewaffnete Gruppen, Paramilitärs und Guerilleros, Kokain über Flüsse und Küsten und verdienen am ungenehmigten Goldab- und Holzraubbau auf dem Gebiet der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden.
Der Bürgerkrieg in Kolumbien ist längst nicht vorbei, aber die Uno, andere Staaten und Hilfsorganisationen sehen die Vereinbarung der linken Farc-Guerilla mit der kolumbianischen Regierung als Anfang eines möglichen Endes. Die Farc haben inzwischen angekündigt, sich im September als zivile politische Partei neu gründen zu wollen. Die Entwaffnung der rund 6800 Kämpfer wurde am 27. Juni abgeschlossen.
Bereits vor der Unterschrift der Farc hatte sich der ebenfalls linksgerichtete Ejército de Liberación Nacional (ELN) in Stellung gebracht und ist nun entlang der Küste nach Norden bis zur Grenze von Panama vorgerückt. Dort kämpft die Guerilla gegen Paramilitärs und die mächtige Drogenmafia Clan Úsuga um Einfluss, auch wenn der ELN gleichzeitig einen eigenen Friedensvertrag mit der Regierung aushandelt. Die Farc hatten sich mit dem Clan über lange Zeit arrangiert und liessen Drogenkuriere gegen Bezahlung ihre Gebiete passieren. Nun geschieht genau das, was viele befürchtet hatten: Es füllen nicht staatliche Kräfte, sondern andere bewaffnete Gruppen das von der Guerilla hinterlassene Machtvakuum.Besonders der Clan und sein berüchtigter Kopf Dairo Antonio Úsuga alias Otoniel profitieren von der neuen Situation und kontrollieren weite ländliche Teile des Departements. Der Clan operiert mit regionalen paramilitärischen Zellen, die unter verschiedenen Namen Goldschürfung, Kokaanbau und Drogenschmuggel organisieren sowie die Transportwege frei halten. Für entscheidende Hinweise auf den seit Jahren gejagten Otoniel bieten Washington und Bogotá insgesamt 6,1 Millionen Dollar.
Opfer dieser Machtkämpfe am Pazifik sind unbeteiligte Einwohner. Tausende mussten allein in den vergangenen sechs Monaten ihre Heimat verlassen, so auch Elver, dessen Dorf in der Nähe des Rio Baudó schon vor Jahren von einer Zelle des Clans überfallen wurde. Nun sitzt der 19-Jährige bei einer Indigenen-Organisation in Bogotá und berichtet darüber, wie die Paramilitärs Águilas Negras sein Leben aus den Angeln hoben. Mitten in der Nacht kamen sie, rasten mit drei grossen Schnellbooten in den Nebenfluss der indigenen Siedlung. Bis zu 40 uniformierte Bewaffnete stiegen aus und fragten nach Elvers Vater. Es brach Panik aus, wie Elver sich erinnert. Nach zehn Minuten fanden sie den Anführer des Dorfes unter den 160 Einwohnern und fuhren mit ihm in der Dunkelheit davon.
Elver hörte nie wieder von seinem Vater. Es war eine Machtdemonstration, ist er sicher. Niemand sollte sich trauen, gegen die Interessen des Clans zu handeln. Er könne entführt, gefoltert und ermordet worden sein. "Aber das heisst nicht, dass ich das erfahre", meint Elver, "obwohl mein Nachbar oder ein Bekannter eventuell davon weiss."
Drei Tage nach dem Überfall verliess die ganze Dorfgemeinschaft ihre Siedlung und wurde in alle Winde verstreut. Sie sind nun Vertriebene, Entwurzelte. Elver traute sich nicht, in der Region zu bleiben. Die meisten Altersgenossen im Dorf sind tot oder verschwunden.
Die terroristischen Paramilitärs der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) zogen ab 1997 vom karibischen Golf von Urabá weiter nach Süden in die Afro- und indigenen Gemeinden, mit dem Vorwand, die linksgerichtete Guerilla bekämpfen zu wollen. "Die meisten Dörfer hatten da noch nie einen Guerillero gesehen", erinnert sich der Missionar Uli Kollwitz. Der gebürtige Rheinländer hat erlebt, wie der Krieg vor 20 Jahren in den Chocó kam und die Vertreibungen begannen. Die AUC sind seit 2006 offiziell entwaffnet, aber auf dem Land bildeten sich aus Überbleibseln Gruppen wie die Águilas Negras. Seit drei Jahren ist die Gewalt auch in die urbanen Gebiete eingesickert.
"Ein älterer Missionar sagte immer: Ich komme aus Quito, eigentlich vom Río Quito, aber den Fluss gibt es nicht mehr", erzählt Uli Kollwitz bitter. Die Fenster der Diözese und Menschenrechtskommission in Quibdó geben Blicke frei auf die Kirche, die belebte Uferstrasse, den Río Atrato und seinen Zufluss Río Quito, der ihn mit Schlamm, Quecksilber und Zyanid vom illegalen Goldabbau verdreckt. Die Fische des Atrato sind ungeniessbar, werden aber trotzdem verkauft und gegessen. Das Wasser ist schädlich, doch dem Spital San Francisco de Asís, dem wichtigsten Krankenhaus der Provinz, bleibt nichts anderes übrig, als es zu verwenden.
Die Folgen der Verschmutzung sind dramatisch und tödlich. Stichproben zeigten, dass die Körper der Einwohner der Provinz bis zu 116 Mal so viel Quecksilber aushalten müssen, wie von der WHO als unbedenklich angesehen wird. Vor dem Obersten Gericht konnten Kläger nachweisen, dass 24 Kinder aus indigenen Gemeinden im Jahr 2014 an den Folgen der Verunreinigung gestorben waren. Gemäss dem Urteil muss die Regierung den illegalen Raubbau im ganzen Chocó beenden und das Flussbett des Atrato wiederherstellen.
Auf Uno-Karten ist zu sehen, wie sich der Goldabbau durch die Provinz Chocó frisst. Bei der letzten Erhebung im Jahr 2014 wurde auf über 22 000 Hektaren im Departement illegal Gold gewaschen, insgesamt befand sich im Chocó fast die Hälfte der ausgebeuteten Fläche ganz Kolumbiens. Generalstaatsanwalt Fernando Carrillo sieht den Abbau als nationales Problem: "Heute ist es der Atrato, aber morgen könnte es der Río Magdalena, der Sinú oder der Amazonas sein", beschreibt er die Aussichten, das tödliche Geschäft zu beenden.
Wilson Chaparro, bis Anfang des Jahres Polizeichef im Chocó, sagt, es sei nahezu unmöglich, den Abbau überall in der Provinz zu stoppen, allein wegen des dichten Regenwaldes und des Klimas. Die Goldschürferfamilien, deren Eltern häufig bereits vertrieben wurden, ziehen ohnehin alle paar Monate weiter. Kommen sie in die Stadt, rutschen sie ab. "Es gibt niemanden, der sich um ihre Bildung kümmert, und so pflanzt sich die Gewalt fort", sagt Chaparro. Die urbane Gewalt habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Jugendliche Banden würden um Einfluss kämpfen, häufig gesteuert und bezahlt vom Clan oder dem ELN. "Sie morden, erpressen, vergewaltigen und sind verwickelt in Prostitution", berichtet Chaparro.
Auch deshalb ist die Polizei in Quibdó vor rund zwei Jahren vom Stadtrand ins Zentrum nahe Fluss, Kirche und Geschäften gezogen, in eine Burg aus Zement mit Verwaltungs- und Wohngebäuden, gesichert von Stahlstreben, Flutlicht und Kameras. "Sollten sich die mit den Waffen nicht vor Frauen und Kinder stellen, statt dahinter?", spottet Uli Kollwitz in der Diözese über den neuen Standort. "Wenn es hier zum Krieg kommt, wer schützt dann wen?" Wenige Blocks entfernt in der Einkaufsmeile gibt es mehrere Geschäfte für Goldankauf. Das grösste ist nachts beleuchtet wie ein Ufo. Es wirbt mit 24-Stunden-Service.
Quibdó ist das urbane Zentrum des Chocó, aber abgelegen vom Rest des Landes. Um innerhalb des Departements weiterzureisen, muss man an der Quaimauer ein Schnellboot besteigen. Um Punkt sieben Uhr legt es voll besetzt ab. Auf dem Atrato rast das Boot stromabwärts durch den schwülwarmen, bedeckten Morgen nach Norden, zum Golf von Urabá. Mehrmals hält es während der stundenlangen Fahrt, Pakete werden abgeliefert und eingesammelt. Im Flüsterton tauschen sich die rund 20 Passagiere über Morde in der jeweiligen Gegend aus. In Riosucio schliesslich gehen einige Reisende von Bord, ihre Plätze werden neu besetzt. Das Boot fährt nach Turbo davon.
Über Planken balancieren die Einwohner zwischen Holzhäusern hindurch. Der dreckige Fluss ist über die Ufer getreten, es riecht modrig. Rund 25 000 Menschen wohnen in Riosucio. Manche finden Arbeit bei der Kirche, der Bezirksverwaltung und einem Verein für Familienbetreuung. Alle anderen müssen sehen, wo sie bleiben. Wegen der Lage zwischen Pazifik, Panama und Karibik ist die gleichnamige grossflächige Gegend ein historisch wichtiges Rückzugsgebiet für Schmuggler.
Im gemauerten Gebäude der Kirchengemeinde sitzt Padre Francisco, dreht die Handflächen nach aussen und beschreibt die Lage: "Die Menschen hier sind ausgeschlossen." Die beruflichen Möglichkeiten seien sehr gering, und ausserhalb der Stadt traue sich aus Angst vor den Paramilitärs kaum jemand, etwas anderes als Kokasträucher zu pflanzen. Just als Francisco im Jahr 2013 die Gemeinde übernahm, kamen als Folge der Vertreibungen auch das Kokain und die Gewalt in der Stadt. "Wegen der Droge töten sich nun schon Kinder gegenseitig", klagt er. Manche verkaufen und konsumieren das begehrte Pulver, schmuggeln es wie die Älteren in Rucksäcken von Dorf zu Dorf bis zur Pazifikküste nach Westen oder an den Golf von Urabá.
Wohin sich die junge Generation im Chocó auch wendet, sie ist umgeben von Illegalität, Drogen und Gewalt. Die meisten 15- bis 35-Jährigen in Riosucio schauen fasziniert nach Turbo, dem Hauptumschlagplatz für Kokain auf dem Weg nach Mittelamerika und Machtzentrum des Clans. Sie sähen die grösste Stadt am Golf als Sprungbrett in ein besseres Leben, erzählt Francisco. Es gebe Universitäten dort, aber die könne sich niemand leisten. "Die Entscheidung ist: Essen wir, oder lernen wir?"
Auf die Frage nach den Chancen, aus dieser gravierenden Situation auszubrechen, sind die Antworten überall gleich; in Riosucio, in Quibdó, auch in der Grossstadt Medellín und in der Hauptstadt Bogotá. Ja, der Frieden mit den Farc sei ein gutes Signal für den Chocó. Seine junge Generation jedoch, die sei längst verloren.
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Laut der Uno-Antidrogenbehörde wurden in Kolumbien
im Jahr 2016 auf 146 000 Hektaren Kokablätter angebaut, so viel wie
noch nie und über 50 Prozent mehr als im Jahr davor. Von schätzungsweise
1028 Tonnen Kokain, die 2016 hergestellt wurden, beschlagnahmten die
Behörden 378 Tonnen. Der Wert des Kokains, das letztes Jahr in Kolumbien
produzierte wurde, liegt bei rund 1,7 Milliarden Dollar. Im aktuellen
Zwischenbericht zum Friedensabkommen mit den Farc heisst es, nur der
kleinste Teil davon, vor allem die Entwaffnung der Ex-Guerilleros, sei
bis jetzt umgesetzt. Erst am Anfang stehe die vorgesehene Verstärkung
für die Polizei und das Militär, welche die Sicherheit in den bisherigen
Farc-Gebieten gewährleisten müssen.
Bereits während der Friedensverhandlungen nahm in Kolumbiens Kriegsgebieten die offizielle Zahl der Getöteten stetig ab. Laut dem Bericht waren es im vergangenen Jahr 3157 Tote. Vom Tag nach der Unterzeichnung am 23. November 2016 bis zum 11. Juli dieses Jahres wurden aber allein 55 Mitarbeiter von Menschenrechtsgruppen umgebracht, und viele mehr erhielten Todesdrohungen.
Quelle: NZZ.ch
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