Säcke schleppen, Currys rühren, Töpfe spülen: Im Goldenen Tempel von Amritsar werden täglich 100 000 Pilger verpflegt. Unser Reporter hat sich als Küchenjunge versucht
Mit Schweiß war zu rechnen. Mit Muskelkater auch. Jetzt aber zieht sich ein Schnitt quer über die Innenseite meiner Hand. Eine scharfe Kante am Boden des Eimers hat die Haut aufgeschlitzt. Keine dramatische Wunde, sie schmerzt auch nicht besonders. Unpraktisch ist sie trotzdem. Denn mein Job ist es, schwere Eisenkübel voller Schmutzgeschirr in die Spülküche zu tragen. So kommt es, dass ich am Ende meines Arbeitstages in der wohl größten Kantine der Welt ein paar Tropfen Blut vergieße. Und ernsthaft überlege, ob ich es mit meinem Arbeitseifer vielleicht doch etwas übertrieben habe.
Einige Stunden zuvor: Gemeinsam mit Tausenden Pilgern und Touristen betrete ich am Morgen den „Harmandir Sahib", den Goldenen Tempel von Amritsar. Das Gotteshaus in der nordindischen Stadt ist das wichtigste Heiligtum für die Anhänger des Sikhismus und die wohl meistbesuchte Sehenswürdigkeit des Subkontinents. Laut Tempelverwaltung werden pro Tag durchschnittlich 100 000 Menschen empfangen - so viele reisen nicht einmal zum Taj Mahal.
Ähnlich beliebt wie der Goldene Tempel selbst ist auch seine Kantine. Die „Langar" genannte Tempelküche bietet jedem Besucher, egal ob Pilger oder Tourist, eine kostenfreie vegetarische Mahlzeit an - Tag und Nacht. Jeder ist willkommen, Alter, Herkunft, Religion oder Geschlecht spielen keine Rolle. Die Langar-Tradition ist den Sikhs so heilig wie den Katholiken das Abendmahl - nur dass im Tempel üppiger aufgetischt wird und auch Geschiedene mitmachen dürfen. Beeindruckend ist auch die Tatsache, dass lediglich ein Dutzend fester Mitarbeiter Zigtausende Menschen verköstigt. Das Massen-Catering ist vor allem das Werk von beinahe 500 freiwilligen Helfern, in der Mehrzahl Pilger und Gläubige, die durch Küchenarbeit religiöse Erfüllung und Inspiration finden wollen. Heute gehöre auch ich zum Küchenteam. Deutlich mehr als spirituelle Erleuchtung interessieren mich aber die praktischen Aspekte: Wie funktioniert die Logistik? Wie schmeckt's? Und wie hart muss man in der Küche schuften?
Für zehn Rupien, umgerechnet 14 Cent, kaufe ich mir vor Dienstbeginn ein orangefarbenes Tuch, um meinen Kopf zu bedecken. Das ist, genau wie barfuß zu gehen, Pflicht im Tempel. Der erste Blick auf das Gotteshaus ist - man kann es nicht anders sagen - spektakulär. Der mit Blattgold überzogene Prunkbau liegt inmitten des künstlichen „Nektarsees" und erinnert aus der Ferne an eine übergroße Schmuckschatulle. Der weiße Putz der umliegenden Palastbauten reflektiert die Sonne und lässt das Heiligtum in mattem Licht erstrahlen. Überwältigt von diesem Anblick sinken einige Pilger sofort auf die Knie und vertiefen sich in Gebete.
Die Kantine liegt ein wenig versteckt in einer Ecke der ummauerten Tempelanlage. Im Prinzip kann jeder Besucher ohne Anmeldung sofort mitarbeiten. Ich stelle mich dennoch vorab beim Kantinenchef vor. Der Mann heißt Uttam Singh, ist 82 Jahre alt, ein kleiner, drahtiger Greis mit blauem Turban und weißem Rauschebart. Seine gekrümmten Gliedmaßen erinnern an die Wurzeln eines alten Baumes. Würde Singh behaupten, er sei Magier und fliege nach Feierabend auf einem Zauberstab nach Hause - man würde nicht dagegen wetten.
Nun rührt er mit einem Löffel, der an ein Ruder erinnert, durch einen gusseisernen Kessel von der Größe eines Whirlpools. Darin köchelt das Dal, die Linsensuppe, die für jedes indische Traditionsgericht so elementar ist wie die Brezen für die bayerische Brotzeit. Unter den Riesenkesseln brennen Holzfeuer, so hoch wie Scheiterhaufen. Sie lodern 24 Stunden, gekocht wird rund um die Uhr. Fünf Tonnen Brennholz werden hier täglich verfeuert.
Bis zu seiner Pensionierung war Singh für die Feldküche der Armee zuständig. Nun erarbeitet er die Speisepläne im Goldenen Tempel. Zwar lässt Singh hier nur traditionelle indische Gerichte auftischen, privat esse er aber auch gerne europäisch-exotisch: Nudeln mit Tomatensoße etwa.
Der Chef meint, ich solle meinen Dienst im Keller beginnen, dort brauche man Männer, die gerne anpacken wollen. Ich folge einem beißenden Zwiebelgeruch und komme in den Bauch des Tempels. Hier liegt die Vorratskammer: Säcke mit Mehl, Reis und Gemüse sind akkurat gestapelt, in separaten Räumen lagern Berge von Knoblauchzehen, Chilischoten, Zwiebeln und Ingwerknollen.
Ein junger Mann eilt herbei: Tejbir Singh, 25. Mit Küchenchef Uttam Singh sei er nicht verwandt, erklärt er, den Nachnamen Singh tragen alle männlichen Sikhs. Er winkt mit einem handbeschrifteten Bestellzettel, Uttam brauche sofort 100 Kilo rote Linsen. Mit beneidenswerter Leichtigkeit schultert Tejbir den ersten Sack und eilt davon. Den nächsten stemme ich - und umgehend wird mir klar, dass ich mich verhört habe: Das Teil wiegt nicht 15 Kilo. Es sind 50. Kaum habe ich den Sack auf die Schulter gehievt, fährt mir ein Schmerz in den Rücken. Nach einem Dutzend Treppenstufen muss ich absetzen. Tejbir hat keineswegs die Statur eines Gewichthebers, dennoch schleppen er und seine Freunde massenweise Lebensmittel durch den Tempel. In 24 Stunden werden in der Langar-Küche durchschnittlich 10 000 Kilo Mehl, 1000 Kilo Reis, 13 000 Kilo Linsen und bis zu 2000 Kilo Gemüse verarbeitet. Technische Hilfsmittel gibt es kaum. Die effektivste Maschine ist hier die Gesamtheit der eingesetzten Muskelkraft. „Für uns zählen nur drei Dinge ", sagt Tejbir, „lobe Gott, singe heilige Lieder und arbeite." Dass hier alles reibungslos funktioniert, ist eindeutig der hoch motivierten und genügsamen Belegschaft zu verdanken. Tejbir meint: „Es ist eine Tradition und ein gutes Gefühl, der Gemeinschaft zu dienen." Gutes Karma sei ihm Lohn genug. Dann zückt er sein Mobiltelefon, wir machen ein Selfie. Grinsend erklärt er, er könne es kaum erwarten, seiner Frau den neuen Kollegen zu zeigen, der sich beim Säckeschleppen so gründlich blamiert habe.
Die Tradition des Langar geht auf den Religionsstifter der Sikhs zurück, auf Guru Nanak Dev Ji. Dieser Wanderprediger zog im 16. Jahrhundert durch die Punjab-Region. Als Sozialreformer verkündete er, dass es nur einen, alles durchdringenden Schöpfergott gebe, der weder Frau noch Mann sei. Von seinen Jüngern forderte er Tugenden ein: Tue Gutes, lebe ehrlich, arbeite hart. Behandle alle Menschen gleich. Sei großzügig und diene deinen Mitmenschen. Im Langar sah der Guru alle Tugenden vereint: eine kostenlose Mahlzeit für alle, gemeinsam eingenommen, zubereitet von Freiwilligen, finanziert mit Spenden. Vor 500 Jahren galt das als geradezu revolutionärer Akt. Und auch heute ist die Freiküche in der von Kastenwesen und sozialen Hackordnungen geprägten indischen Gesellschaft eine Besonderheit.
Weltweit gehören rund 25 Millionen Menschen dem Sikhismus an. Man erkennt die gläubigen Männer an ihren Turbanen und wuchernden Bärten. Körperhaar ist Teil der Schöpfung und soll daher nicht geschnitten werden. Traditionalisten tragen außerdem einen Holzkamm (Kanga) bei sich, einen Armreif (Kara), eine bis zu den Knien reichende Unterhose (Kacha) und einen „Kirpan" genannten Dolch. Bedeutend wichtiger als die traditionelle Tracht ist den Sikhs aber das Langar. Auch in westlichen Metropolen wie London oder New York ist dieser Brauch weit verbreitet, dort vor allem in Form von Armenküchen für Obdachlose und andere Bedürftige.
Hungrige Pilger warten vor dem Eingang eines Speisesaals
© Helena Schätzle
Während Guru Nanak Dev Ji der Legende nach mit nur 20 Rupien das erste Langar finanzierte, kostet der Betrieb der Freiküche im Goldenen Tempel heute mehrere Millionen Euro pro Jahr. Doch die Zahl anonymer Spender ist groß genug, um den Betrieb auf zwei Jahre im Voraus zu sichern. Neben Geld und Arbeitskraft spenden viele auch Nahrungsmittel. Die im Keller lagernden Vorräte kommen größtenteils von den Bauern des Punjab.
Tejbir beschließt, dass ich beim Kartoffelschneiden doch besser aufgehoben sei als beim Säckeschleppen. Ein Stockwerk weiter oben bekomme ich in der Küche ein frisch geschliffenes Messer in die Hand gedrückt und beginne zusammen mit Dutzenden anderer Helfer, die Knollen zu vierteln. Keiner spricht, jeder schnippelt vor sich hin. Immer wieder kippt jemand einen neuen Eimer Kartoffeln neben uns aus, die Berge werden nicht kleiner. Nach Stunden ist noch immer kein Ende in Sicht. Doch das scheint niemanden zu frustrieren. Meine Kollegen begreifen die monotone Arbeit offenbar als Entspannungsübung, als Gruppenmeditation.
Lebhafter geht es in der Bäckerei zu. Dort findet man auch eine der wenigen hier eingesetzten Maschinen: einen mit einem Fließband versehenen Backofen, der Tausende Roti ausspuckt, wie die dünnen, indischen Fladenbrote genannt werden. Vorher muss der Teig jedoch zu fußballgroßen Batzen geformt und anschließend in die Backmaschine gedrückt werden. Die fertigen Rotis rollen in einen Nebenraum, wo ein Heer von Helfern die Brötchen mit Butter bestreicht. Zu ihnen gehört auch Archana Revankar, Anfang 30, aus Bangalore. Sie arbeitet als Managerin in der Stahlindustrie und macht mit ihrer Mutter Urlaub in Nordindien. Die beiden sehen ihren Küchendienst als Gegenleistung für die spätere Gratis-Mahlzeit - wie auch Hunderte anderer Besucher. Es sind spontane, unorganisierte Einsätze - doch in ihrer Gesamtheit halten sie das Langar-System am Laufen.
Was auf den Teller kommt, ist in Indien kaum einmal Privatsache, sondern fast immer Politikum, erzählt Revankar. Man ist, was man isst. Nationalistische Hindus fordern, den Konsum und den Handel von Rindfleisch zu verbieten, weil ihnen die Kuh als heiliges Tier gilt. In Großstädten wie Mumbai gibt es ganze Stadtviertel, in denen nur Vegetarier erwünscht sind. „Anti-Fleischesser"-Klauseln in Mietverträgen sind nicht ungewöhnlich - mitunter nutzen manche Hindus diese Regeln, um Muslime oder Angehörige unterer Kasten auszugrenzen.
In Amritsar regiert eine informelle, über Jahrhunderte gewachsene Ordnung
Auch im Goldenen Tempel wird ausschließlich vegetarisch gekocht, und selbst in seinem Umfeld dürfen nur fleischlose Speisen serviert werden. Das gilt auch für eine McDonald's-Filiale, die sich in der Nachbarschaft des Heiligtums befindet.
Nach dem Bäckerei-Dienst knurrt schließlich auch mir der Magen. Vom Geschirrdienst bekomme ich am Eingang zum Speisesaal einen Blechteller und Besteck in die Hand gedrückt. Der Raum hat die Größe einer Turnhalle. Kaum hat man im Schneidersitz in einer langen Reihe Platz genommen, eilt schon jemand heran und füllt den Teller mit Dal, Reis, einem Roti und dem Nachtisch, einem Kheer genannten Pudding mit Mandeln und Rosinen.
Alles ist gut abgeschmeckt, das Dal intensiv gewürzt, ein hervorragendes Gericht. Kaum ist der Teller leer, wird bereitwillig Nachschlag ausgegeben. Erst jetzt werden mir die enormen Ausmaße dieser All-you-can-eat-Kantine bewusst: Ein niemals versiegender Strom an Menschen wird durch den Speisesaal geschleust. Es gibt keine Stoßzeiten, es ist immer voll - nur nachts kommen Hunderte statt Tausende. Ist eine Gruppe mit dem Essen fertig, wird der frei gewordene Teil des Saals vom Putzdienst zügig nass durchgewischt. Kochen, servieren, essen, putzen - mit minimaler Organisation wird maximale Effektivität erreicht. Die Langar-Küche als perfekter Ameisenstaat: Eine unsichtbare und über Hunderte Jahre gewachsene informelle Ordnung strukturiert das Chaos.
Nach dem Essen steht der Abwasch an. Das schmutzige Geschirr wird über eine Menschenkette weitergereicht, der Letzte schleudert die Teller wie Frisbeescheiben in große Eiseneimer. Die Behälter füllen sich in Sekunden, ich muss sie schleunigst in die Spülküche tragen und dort in ein Becken kippen. Das Klappern Tausender Teller sorgt für ein Klangerlebnis im oberen Dezibel-Bereich. Ein Heer Tellerwäscher steht an meterlangen Becken und schrubbt Becher, Messer, Gabeln und Teller in dem trüben, in alle Richtungen spritzenden Wasser. In 24 Stunden werden hier 300 000 Geschirrteile gesäubert. Im Gegensatz zu den stillen Kartoffelschälern nebenan toben sich die Tellerwäscher voll aus: In das Blechgewitter mischen sich ihre „Wahe Guru, Wahe Guru"-Rufe, das heißt „Wunderbarer Lehrer". Mit jedem Eimer Schmutzgeschirr, den ich barfuß über den rutschigen Boden schleppe und in ein Becken schütte, werden die Gesänge euphorischer. Was für eine Abwasch-Ekstase! Dann spüre ich wieder einen Schmerz - diesmal nicht im Rücken, sondern in der Hand.
Später, der Blechlärm ist weit weg, sitze ich am Ufer des Nektarsees und erhole mich vom Spülküchen-Wahnsinn. Mit einem Taschentuch verarzte ich meine Wunde. Der sanfte Singsang von Gebeten rieselt unaufhörlich aus den Lautsprechern. Als ich mich vom greisen Uttam Singh verabschiede, legt mir der Küchen-Guru noch ein Gulab Jamun, eine in Sirup eingelegte Teigkugel, in die verwundete Hand. So süß schmeckt der Feierabend.