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Sex And The Cities: So flirtet die Großstadt

Anna ist nach New York gezogen, Gaurav nach Berlin. Sie sind jung und attraktiv. Zumindest dachten sie das. Denn plötzlich interessiert sich das andere Geschlecht nicht mehr für sie. Langsam erkennen die beiden, dass in manchen Städten völlig andere Flirt-Regeln gelten.


Anna sitzt auf einer Parkbank im New Yorker Fort Green Park und weint. Das Gesicht vergräbt sie in den Armen ihrer Freundin. „Ich kann das einfach nicht mehr", schluchzt sie. Ihre Freundin streichelt ihr sanft über die brünetten Haare. Was kann sie schon sagen? Sie dachte ja auch, dass Anna dieses Mal den richtigen Mann getroffen hätte. Endlich einen, der es ernst mit ihr meint. Mit dem es was werden könnte. Am Donnerstag war Kris noch auf Annas Geburtstagsparty gewesen. Plötzlich stand er in der Wohnung. Sogar ein Geschenk hatte er mitgebracht. Aber jetzt ist schon Sonntag, und er hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. „Es ist immer dasselbe", murmelt Anna. „Ich muss verflucht sein."


Vielleicht ist aber auch die Stadt verflucht, in der sie wohnt. Anna ist in Budapest aufgewachsen, hat in Wien, Rotterdam und Berlin gelebt. Wenn sie in Bars ging, wurde sie fast immer angesprochen. So war das zumindest in Europa. Dann fand Anna einen Job als Grafikdesignerin in New York. Eine große Chance für die damals 29-Jährige.

Auf den ersten Blick scheint das Leben in der Ostküsten-Metropole nicht viel anders als überall sonst in der westlichen Welt zu sein. Anna spricht die Sprache, kennt die Küche. Bald hat sie neue Freunde, ein gutes Sozialleben. Doch etwas hat sich verändert: Männer scheinen Anna nicht mehr wahrzunehmen. Jedenfalls spricht sie nie einer an. „Ich hielt mich eigentlich für eine attraktive Frau, aber plötzlich war es, als wäre ich unsichtbar", sagt Anna. „Ich habe angefangen, mich zu fragen, ob etwas mit mir nicht stimmt."


Ungefähr zur selben Zeit streift Gaurav durch das Berliner Nachtleben und stellt sich dieselbe Frage. Mit 24 hat er seine Heimatstadt Neu-Delhi verlassen. Drei Jahre lebte er in London, vier in Mumbai. Er ist nicht schüchtern, geht rasch auf andere zu und findet überall schnell Freunde. Sobald eine Stadt zu gemütlich wird, lässt er sie hinter sich. Ihn reizt das Leben außerhalb seiner Komfortzone. Als er von zu Hause weggezogen ist, war er in einem Alter, in dem viele seiner Altersgenossen bereits sesshaft wurden. Die Ehe spielt eine große Rolle im traditionellen Indien. In neun von zehn Fällen suchen die Eltern den Partner für ihre Kinder aus. Obwohl das Kastenwesen seit Erklärung der Unabhängigkeit 1947 offiziell abgeschafft wurde, existiert es de facto bis heute: Meistens wird innerhalb derselben gesellschaftlichen Gruppe geheiratet. Das schränkt die Auswahl ein.


Gaurav hat auf all das keine Lust. Er möchte erst einmal die Welt sehen. Doch jetzt zweifelt er, ob es richtig war, nach Berlin zu gehen. Auch wenn all seine Freunde gesagt haben, dass er gut in die Stadt passen würde. Seit einem Monat ist er bereits hier. Kennengelernt hat er noch niemanden - schon gar keine Frauen. „Einmal habe ich eine angesprochen und sie gefragt, ob sie etwas mit mir trinken gehen möchte", erzählt Gaurav. „Sie hat nur zu Boden geschaut und mit steinerner Miene ‚nein' gesagt. Ich glaube, sie dachte, dass ich sie ins Bett kriegen wollte. Aber so war es nicht: Ich wollte einfach nur ein Gespräch beginnen."


Wie bei Tinder - wisch und weg


Wie viele Alleinstehende in Berlin zu Hause sind, lässt sich nur schätzen. 2013 gab es laut Statistischem Bundesamt mehr als eine Million Einpersonen-Haushalte in der deutschen Hauptstadt. Die NYC Economic Development Corporation hat errechnet, dass in New York knapp 750000 männliche und fast ebenso viele weibliche Singles zwischen 20 und 34 leben.

Gaurav und Anna wohnen also in zwei Single-Metropolen - und fühlen sich wie auf einem fremden Planeten. Wie ist das möglich? Henning Wiechers, Gründer der Plattform Singleboersen-Vergleich.de, erklärt es so: „Die Leute kommen aus unterschiedlichen Kulturen und müssen sich zusammenraufen. Sie haben eine nette, aber oberflächliche Art, miteinander umzugehen: Alle sind freundlich und höflich, aber niemand lässt jemanden an sich heran. Das hat sich so entwickelt, weil viele verschiedene Leute in einen Topf geworfen werden und dann miteinander klarkommen müssen."


Großstädte werden also zu kulturellen Schmelztiegeln einer neuen Generation - nicht nur Berlin oder New York. „Jede Stadt mit vielen jungen Zugezogenen ist eine Single-Metropole", sagt Eric Hegmann, Coach der deutschen Partnervermittlungsbörse Parship. „Aber in der Anonymität der Großstadt ist die Partnersuche nicht einfacher. Wer eine verbindliche Beziehung wünscht, scheitert gerade dort oft an Unverbindlichkeit." Das Angebot ist eben groß. Man muss sich nicht festlegen. Wenn es mit einer Person nicht klappt, versucht man es eben mit der nächsten. Wie bei Tinder: links wischen, rechts wischen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und am Ende waren da zwar Millionen an Möglichkeiten, aber keine einzige davon wurde jemals mehr als das.


Anna hat ein paar Freunde zu sich eingeladen. Sie trinken Rotwein, die Stimmung ist heiter. Anna klagt mal wieder, wie schwer es ist, in New York Männer kennenzulernen. „Hast du es schon mit Online-Dating versucht?“, fragt ihre Freundin Julia. Anna lacht.

„Ist es wirklich schon so schlimm? Online-Dating ist doch für Loser!" Julia lässt nicht locker. Sie schnappt sich Annas Laptop. Die öffnet noch eine Flasche Wein und sieht belustigt zu, wie Julia sie auf der recht coolen Plattform OK Cupid anmeldet. Ein paar Fragen müssen beantwortet werden. Fragen, die lustiger sind als bei den anderen Partnerbörsen. „Könntest du mit jemanden zusammen sein, der unordentlich ist?", „Magst du Horror-Filme?" Keine zehn Minuten später ist Annas Profil fertig. „Los, du musst ,Enter' drücken", sagt Julia. Anna nimmt einen Schluck Wein. „Whatever." Sie drückt ,Enter'.


Am nächsten Morgen hat sie die Sache schon fast vergessen. Als sie verkatert ihren Computer hochfährt, fällt es ihr wieder ein: In ihrer Mailbox sind 20 neue Nachrichten - alle von Männern, die Anna auf OK Cupid gesehen haben und sie offenbar ziemlich lässig fanden. „Ich war vollkommen von den Socken!", erinnert sie sich. „Es waren interessante Typen dabei - Architekten, Künstler - und gut aussehend waren sie auch noch. Wären sie in einer Bar auf mich zugekommen, hätte ich weiche Knie bekommen." Sie schreibt zurück, Dates werden vereinbart. Annas Fluch scheint gebannt.


Gaurav kämpft noch. Dass er sich nur auf Englisch verständigen kann, macht es nicht leichter für ihn, sich in Berlin einzuleben. Aber langsam stellt er sich auf den Rhythmus der Stadt ein. „Ich habe zuerst nicht verstanden, warum die Berliner so reserviert sind. Sogar in der U-Bahn sehen alle nur zu Boden. Niemand redet, niemand lacht", sagt er. „Aber dann wurde mir klar: In Berlin wird man schnell vorsichtig, weil es so viele komische Vögel gibt. Manche nehmen Drogen, einige haben keinen Job. Man bleibt lieber unter Leuten, die man schon kennt." Also hält sich auch Gaurav an die Kollegen aus dem Büro. Und dann trifft er Laura. Doch da ist es schon fast zu spät.


Es gibt keine Verpflichtung, treu zu sein


Anna hat sich mit sechs Männern getroffen. Es waren nette Abende. Mit einem Typen hatte sie Sex. Er meldete sich nie wieder. Als sie Kris traf, dachte sie, dass es diesmal anders sein würde. Aber mittlerweile hat sie den Gedanken an ihn fast aufgegeben. Da vibriert ihr Handy. Eine SMS. Sie ist von ihm. „Hey, ich fahre am 4. Juli nach Upstate New York zu Freunden. Willst du mitkommen?" Weil Anna nicht weiß, was sie antworten soll, schreibt sie einfach: „Soll ich ein Zelt mitnehmen?"


Das Wochenende ist fast schon zu romantisch: Kris und Anna reden stundenlang über alles Mögliche. Sie küssen sich. Sie schlafen miteinander. Er stellt ihr seine Freunde vor. Alles deutet darauf hin, dass er sie wiedersehen möchte, in Deutschland wäre das wohl der Beginn einer Beziehung. Aber dann hört Anna wieder fünf Tage nichts von ihm. „Ich war total verunsichert. Ich wusste nur, dass ich diesen Mann sehr gerne mag. Also verließ ich mich darauf, dass er wusste, was er tat", sagt sie. „Das war, als müsste ich zu einem Ballett tanzen, ohne die Choreografie zu kennen."


Der österreichisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick befasste sich bereits 1976 mit dem Problem. In seiner Studie „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ erklärte er interkulturelle Unterschiede zwischen Amerikanern und Engländern. Bei beiden erfolgt die Annäherung in etwa 30 Schritten – vom ersten Blickkontakt zum Geschlechtsverkehr. Die Schritte bedeuten aber nicht dasselbe: In Großbritannien ist der Kuss eine der letzten Vorstufen zum Sex, deswegen lässt man sich damit Zeit. In den USA wird relativ früh geküsst – was aber noch lange nicht bedeutet, dass man miteinander ins Bett gehen wird.


Viele Europäer wissen auch nicht, was der US-amerikanische Ausdruck „Dating“ wirklich bedeutet: Er beschreibt eine Phase, in der sich zwei Menschen näherkommen, aber noch kein Paar sind, einen „Zustand des Beschnupperns“, wie Wiechers sagt. Eine Verpflichtung, treu zu sein, gibt es erst mal nicht – bis der Mann die Frau fragt, ob sie „exclusive“, also seine Freundin sein möchte. Die Frage stellt aber er, etwa so wie auch der Mann meistens um die Hand der Frau anhält und nicht umgekehrt. „Das Rollenverständnis der Deutschen ist ein anderes“, sagt Eric Hegmann. „Diese Regeln hatten in einem kulturellen Schmelztiegel aber durchaus ihren Sinn: So konnten sich Männer und Frauen auf einen Katalog von Vereinbarungen stützen, um die erste Kennenlernphase ‚sicher‘ zu erleben.“ Wer „exclusive“ ist, ist so gut wie verlobt. Und danach wird es ernst. Richtig ernst.


Auf Umwegen zum Glück


Anna dachte, sie würde sauer sein, aber zu ihrer Überraschung ist sie es nicht. Kris sitzt neben ihr im Auto. Hier haben sie am 4. Juli miteinander geknutscht, sich intime Details aus der Kindheit erzählt. Gerade hat er ihr gestanden, dass er vor ein paar Wochen mit einer anderen geschlafen hat. Und jetzt bittet er Anna, ihm mehr Zeit zu geben, weil er sich noch nicht binden kann. „Zunächst war ich total gegen die Idee, mit einem Mann auszugehen, der vielleicht auch noch mit anderen Sex hat“, sagt Anna. „Aber ich fand es schön, dass er so ehrlich war. Ich wusste, dass er nicht einfach nach netten Worten suchte, um mit mir Schluss zu machen.“


Vier Monate vergehen. Kris fragt nicht, ob Anna „exclusive“ sein möchte. Eines Tages erklärt er ihr einfach, dass sie nun seine Freundin sei. „Das war der Anfang und das Ende der Diskussion“, sagt sie und lacht.


Gaurav ging nicht davon aus, dass Laura seine Freundin war oder jemals sein würde. Ein paar Mal war er mit ihr aus. Sie gingen abendessen und ins Theater. Die beiden haben viel gemeinsam. Sie genießen die Zeit miteinander. Aber in Gedanken ist Gaurav schon wieder in Indien. Er hat sich in Berlin eingelebt, sich regelrecht in die Stadt verliebt. Doch jetzt läuft sein Arbeitsvertrag aus, und Gaurav muss Deutschland verlassen. Eine Fernbeziehung kommt für ihn nicht infrage. „Man wird älter und realistischer“, sagt er. „Ich wollte ihr nicht vorgaukeln, dass es Sinn hätte, sich auf mich einzulassen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie es in Indien weitergehen würde.“


Neu-Delhi hat sich stark verändert, seit Gaurav die Stadt vor acht Jahren verlassen hat: Sie ist zu einer modernen Stadt erblüht. Die Straßen und Bars sind voller junger Menschen aus der ganzen Welt. Die alten Normen verlieren immer schneller an Gültigkeit. Viele Jugendliche heiraten über Kastengrenzen hinweg oder lassen es gleich ganz bleiben. Wie in Europa ist man jetzt einfach zusammen, ohne das zu manifestieren. Gauravs Eltern fragen ihn manchmal vorsichtig, wie es um seine Ehepläne steht. Aber allzu lästig fallen sie nicht. Vielleicht merken sie, dass sich ihr Sohn genauso verändert hat wie seine Heimatstadt. Er weiß, wer er ist und was er will. Wenn er mit Frauen spricht, ist er selbstsicher und gelassen. Aber er will gar keine Frauen mehr ansprechen. Laura fehlt ihm, mehr, als er erwartet hat. Er schreibt ihr auf Facebook. Sie antwortet. Bald skypen die beiden jeden zweiten Tag. Nach einer Weile lädt er sie ein, ihn in Neu-Delhi zu besuchen. Sie sagt zu. „Ich hatte ein bisschen Angst. Wie würden wir miteinander umgehen? Wir hatten uns ja schon seit Wochen nicht gesehen“, sagt Gaurav. „Aber dann sind wir zwei Wochen durch Indien gereist, und es war toll. Das hat uns überzeugt, dass wir es miteinander versuchen sollten.“ Eine Fernbeziehung soll es immer noch nicht sein. Gaurav möchte so bald wie möglich nach Berlin zurückkehren. Er lernt weiterhin fleißig Deutsch.

Anna ist inzwischen mit ihrem Freund zusammengezogen. Früher hätte sie das durchaus auch schon nach wenigen Wochen getan. Mit Kris war es erst nach einem halben Jahr so weit. „Es war gut, die Dinge langsamer anzugehen. Ich hätte es nicht gedacht, aber das war auch das richtige Tempo für mich.“


Auch wenn sie die Dating-Regeln der New Yorker jetzt versteht – sie ist froh, dass sie nicht mehr danach spielen muss: „In dieser Stadt nach einem Partner zu suchen, ist ein Albtraum“, sagt sie. Ob sie es in anderen Städten leichter gehabt hätte? In Istanbul, wo ein und derselbe Ausdruck („seni seviyorum“) sowohl „Ich liebe dich“ als auch „Ich mag dich“ bedeuten kann? Oder in Hongkong, wo schon ein etwas zu langer Augenkontakt als aufdringlich empfunden wird? Oder in Buenos Aires, wo Männer den Frauen auf der Straße „piropo“ nachrufen, was ein ernst gemeintes Kompliment, aber auch eine ziemlich plumpe Anmache sein kann?

Flirten ist kompliziert – egal, wo es einen hin verschlägt, man muss sich erst mit den kulturellen Spielregeln vertraut machen. Daran ändert auch die Globalisierung nichts. Irgendwie romantisch.

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