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Ein Dialog zwischen Bild und Ton

Den Geiger Johannes Haase fasziniert an der Improvisation vor allem die Freiheit, die Erzählung selbst zu beeinflussen. (Christina Kuhaupt)

Bremen. „Ich nehme einen Cappuccino, bitte", sagt Johannes Haase. Der Bremer Geiger, der sich künstlerisch im Grenzgebiet von zeitgenössischer Musik, Jazz und Improvisation bewegt und somit beruflich gerne experimentiert, hält sich bei seiner Heißgetränkewahl lieber an den Klassiker mit Milch. Bereits 2002 kam der heute 36-Jährige, der unter anderem Projekte mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen realisiert, aus dem niedersächsischen Wolfenbüttel in die Hansestadt. Der Grund war ein Studium an der Hochschule für Künste Bremen, das er allerdings nicht abgeschlossen hat. Später in Basel hat der Geiger dann seinen ersten und einzigen Abschluss gemacht: einen Master in Improvisation.

Was ihn an der Improvisation fasziniert? „Es ist ein spielerischer Umgang mit einem In-­strument und Musikmaterial", sagt Haase. „Ich kann die Erzählung jederzeit beeinflussen, verändern oder auch beenden. Es macht einfach Spaß - auch, weil man vorher nicht weiß, wie die Sache endet. Manchmal ist man von sich selbst überrascht, man lernt sich sehr gut kennen."

Sein Herz hängt an den freien Konzeptionen. Die neueste Baustelle: ein Dialog zwischen Ton und Bild. „Hyper Paradoxie" heißt das Projekt, dass er gemeinsam mit seinem Duo-Partner Tilmann Rößler realisiert. Seit vier Jahren arbeiten die beiden Künstler zusammen. Normalerweise präsentieren sie sich live vor ihrem Publikum, dank Corona verlagern sich die Auftritte vorerst jedoch auf die Videoplattform Youtube. Per Livestream können Fans und Liebhaber den beiden Künstlern dabei zusehen, wie sie in ihrer jeweiligen Ausdrucksform miteinander kommunizieren: Haase mit der Geige, Rößler mit Videosequenzen. Der eine reagiert auf den anderen. Mal gibt Haase mit dem Instrument vor, wohin die Reise gehen wird, mal verändert Rößler durch ein neues visuelles Narrativ die Sinneswelt.

Haase selbst sucht stets neue Narrative. In den vergangenen Jahren hat er für eine Weile in Indien und in Chile gelebt, die Menschen, die Kultur und ihre Art zu musizieren kennengelernt. „Spannend an diesen Reisen ist, dass zwei Musikwelten aufeinander treffen. Nicht nur die Art, wie musiziert wird, sondern auch die Art, wie darüber gesprochen wird, ist völlig verschieden", sagt Haase. So würden Dinge häufig entweder anders oder auch gar nicht benannt. „Immer wenn ich in ein Land reise, dessen Kultur sich komplett von unserer unterscheidet, stelle ich auch meine eigenen Ansichten infrage und relativiere. Ich habe zum Beispiel in Indien bei meinen Freunden gewohnt, so lernt man das wahre Leben fernab der Touristen kennen." Welcher Teil der Welt ihn als nächstes reizen würde? „Ich möchte mal nach Afrika. Da kommt ganz viel her, das mit Rhythmus zu tun hat." Doch auch die Hansestadt lässt ihn nie ganz los. „Was mich bisher in Bremen gehalten hat, sind meine Freunde und meine Musikprojekte. Sowohl mit Tilmann, als auch mit der Deutschen Kammerphilharmonie", erklärt Haase. Klassik höre er privat nicht, vielmehr reize ihn ­Musik, die einen experimentellen Charakter hat: „Ich höre viel Jazz, aber eher noch neuere Bands, die auch mit Elektronik interagieren."

An ein bestimmtes Improvisationsschema hält er sich bei seiner Musik nicht. „Letztlich bin ich der, der alles entscheidet, aber ich setze mir schon Grenzen, weil es sonst zu unübersichtlich würde." Die Frage, wie viel Melodie und wie viel Geräuschanteil ein Stück verträgt, stelle er sich trotzdem immer wieder. „Hyper Paradoxie" habe zum Beispiel eine gewisse Ästhetik, auch klangtechnisch. „Das ist nicht von vornherein klar gewesen."

Das Duo Haase und Rößler debattiert in seinem Werk auch über Politik, so wiederholt sich in „Hyper Paradoxie 1" eine Sequenz, in der Küken geschreddert werden. „Unsere Bilder sind bewusst gewählt und auch platziert. Die Szene mit den Küken ist auch ziemlich lang und penetrant, sodass man an ihr hängen bleibt", erklärt Haase. Die Videos, die Rößler verwendet, suchen die Künstler vorher gemeinsam aus. In welcher Reihenfolge und mit welcher Intensität das Sample genutzt wird, bleibt allerdings spontan. Auf musikalischer Seite gibt es keine Samples, alle Töne erzeugt Haase mit seiner Geige, einem Midi-Controller und Effektpedalen.

Dass das Duo aktuell einen Stream betreibt, statt Konzerte zu geben, hat auch Vorteile: „Ich würde sagen, wir haben das Programm ein bisschen angepasst. Natürlich würde das Publikum mehr daran teilhaben, wenn es mit uns im selben Raum wäre - andererseits haben durch die Streams viel mehr Leute die Möglichkeit, uns spielen zu sehen", sagt Haase. Ein Livestream sei immer ein Wagnis: „Manchmal überraschen wir uns gegenseitig mit unerwarteten Wendungen." Beim ersten Stream hätten sie zudem einen längeren Filmausschnitt einbauen müssen, um in Ruhe nachsehen zu können, ob der Stream auch wirklich läuft.

Zur Musik kam Haase durch seine Familie. „Meine Mutter war Klavierlehrerin, mein Vater Musiklehrer. Ich war als kleines Kind in der musikalischen Früherziehung, einmal kam ein Geiger vorbei und sein Spiel hat mir wohl so gut gefallen, dass ich auch Geige spielen wollte." Bisher war die Geige sein einziges ­Instrument. Aktuell ist er aber dabei, sich das Klavierspielen beizubringen. „Ich möchte Jazz-Harmonien und Changes spielen können. Möchte verstehen, was die Harmonien mit-­einander zu tun haben, um das am Ende auf der Geige anzuwenden."

Weitere Informationen

Den nächsten Livestream des Haase-und-Rößler-Duos gibt es am Freitag, 12. Juni.

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