Deutsche Schulen haben einen beinahe musealen Charakter. Man stelle sich vor, ein Vater besucht den Elternsprechtag seiner Tochter. Er begibt sich in das Klassenzimmer, in dem die Lehrerin schon wartet - und fühlt sich schlagartig in seine eigene Schulzeit zurückversetzt. Tafel, Schwamm, Kreide, Overhead-Projektor und im Bestfall ein alter Röhrenfernseher mit VHS-Rekorder. Alles Hilfsmittel, die er noch aus seiner eigenen Schulzeit kennt. Obgleich auch Tablets und Whiteboards den Einzug in die Klassenzimmer gefunden haben: Der flächendeckende technische Fortschritt hält sich vielerorts in Grenzen. Kinder und Jugendliche, für die die Nutzung modernster Technik zum Alltag gehört und die nicht selten ihren Eltern weit voraus sind, stoßen in der Schule auf Relikte vergangener Zeiten.
Dass Deutschland in Sachen Digitalisierung im internationalen Vergleich weit hinterherhinkt, ist nicht neu. Die Bundesregierung will die digitale Wirtschaft nun vorantreiben. Und auch in der Bildung tut sich einiges, um den technologischen Wandel in die Schule zu bringen. Auf der Bildungsmesse Didacta, die vergangene Woche in Köln gastierte, widmete sich eine ganze Messehalle dem Thema. Rund 100.000 Besucher - Lehrer, und die, die es mal werden wollen - erreichen die rund 800 Aussteller dort, gilt die Messe doch als El Dorado der Didaktik.
Dort zeigt sich: Schulbuchverlage wie beispielsweise Klett und Cornelsen haben ihr digitales Angebot bereits ausgebaut. Parallel zum gedruckten Buch bieten sie nicht selten die eBook-Variante an. Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PwC wird sich der Trend fortsetzen: Betrug der Anteil von digitalen Produkten am Gesamterlös auf dem Schulbuchmarkt im Februar 2018 noch 4,3 Prozent, könnte er sich bis 2021 auf fast 40 Prozent fast verzehnfachen, so prognostiziert die Unternehmensberatungsfirma.
Doch die Innovationen der Verlage beschränken sich nicht darauf, das Buch auch in papierloser Form anzubieten. Mit dem mBook zum Beispiel integriert Cornelesen Interaktivität ins Lehrwerk. Per Klick können die Schüler damit Videos und Audiodateien abspielen. Das soll ein Lernen durch Anfassen, Probieren und Experimentieren ermöglichen - nicht nur im naturwissenschaftlichen Unterricht. Ähnliches will auch der Klett Verlag in Klassenzimmern etablieren: Im eCourse bekommen Lehrkräfte die Möglichkeit, Inhalte zu individualisieren - einzelne Schritte können bearbeitet oder ausgelassen und durch neue ersetzt werden. Das Lehrwerk fungiert als Baukasten, den Pädagogen je nach Belieben mit externen Elementen erweitern können. Keine Nebensächlichkeit, denn so können Lehrer das machen, was Schulbuchverlagen nicht möglich ist: die Unterrichtsmaterialien an die Bedürfnisse der Schüler anpassen, sie tatsächlich dort abholen, wo sie stehen. Der eCourse ist dabei cloudbasiert. Nachdem die Lehrkraft die Aufgaben im Editiermodus erstellt oder bearbeitet hat, teilt sie sie mit der Lerngruppe. Die lästige Schülerausrede „Ich habe mein Arbeitsblatt verloren" wird damit ebenso obsolet wie „Ich habe mein Arbeitsmaterial vergessen". Denn die Aufgaben sind mit jedem internetfähigen Gerät abrufbar - vorausgesetzt, die Schule verfügt über ein gutes WLAN-Netzwerk.
Doch so einfach zu handhaben und sinnvoll einsetzbar die digitalen Produkte auch sind: Sind sie Grund genug, das Gedruckte aus den Klassenzimmern der Bundesrepublik zu verbannen, allen Heranwachsenden Tablets in die Hand zu drücken und fortan ausschließlich auf einer pädagogischen Datenwelle zu surfen? Eher nicht. Denn gerade fürs Lesen wären die Auswirkungen fatal. Mit der Stavanger Erklärung dämpften jüngst 130 Leseforscher den Traum so mancher Digitalisierungsfanatiker, Schulen komplett vom Papier zu befreien. Ihre zentrale Erkenntnis: Das analoge Lesen hilft, sich Inhalte besser merken zu können. Gerade für die Schule, wo Textverständnis eine essenzielle Kompetenz darstellt, ist das von großer Bedeutung. Die Einwände der Forscher bloß als digitalisierungspessimistisch abzutun, würde eine ernsthafte Debatte über die Konditionen guten Lernens verhindern.
Außerdem: Geschieht fortan sämtliche Textproduktion lediglich auf virtueller Basis am Tablet oder am PC, mag es Lehrern vielleicht die Qual abnehmen, so manche Schülerschrift zu entziffern. Doch nicht nur, dass damit eine wertvolle Kulturtechnik aus der Schule verbannt würde. Es hätte auch Auswirkungen auf das Denken und die Problemlösekompetenz von Schülern. Denn erwiesenermaßen regt die sensomotorische Integration kognitive Prozesse an. Ein Phänomen, das beim Schreiben mit Stift und Papier gut zu beobachten ist.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass digitale Innovationen in Lehrerzimmern oft auf einen gewissen Technologiepessimismus treffen. Ende 2018 stellte die Universität Duisburg-Essen den von der Wübbel-Stiftung in Auftrag gegebene Schulleitermonitor vor. Die Studie fasst anhand von Umfragen zusammen, wo sich Schulleitungen konkret Unterstützung erhoffen. Die Digitalisierung spielte dabei eine große Rolle - und führte zu einem erstaunlichen Befund. Fast die Hälfte der befragten Schulleitungen teilt die Auffassung, dass ihr Kollegium Vorbehalte gegen digitale Medien besitzt oder ihren Nutzen als überbewertet empfindet.
Nach der Einigung in der Digitalpakt-Debatte werden Bildungseinrichtungen in den kommenden fünf Jahren insgesamt fünf Milliarden Euro für die digitale Infrastruktur an Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Die Pädagogen müssen nun abwägen, welche Schritte sinnvoll sind. Dabei stellt sich nicht die Frage, ob man künftig sämtliche Bücher zu Staubfängern degradieren oder sich dem technischen Fortschritt doch gänzlich verschließen sollte. Es kann nicht um ein Entweder-oder gehen. Denn, wie jeder Pädagoge schon in der Lehramtsausbildung lernt: Methode und Material müssen mit dem Lernziel harmonieren. Gleiches gilt auch bei der Digitalisierung - denn sie ist kein Selbstzweck.