1 abonnement et 0 abonnés
Article

Warum die EU-kritische PiS auf einmal mit Europa wirbt

Jaroslaw Kaczynski, Polens mächtigster Mann. | Quelle: Reuters

Die polnische Regierungspartei PiS ist nervös. Die Europawahl ist ein Test für die Parlamentswahl im Herbst, bei der die Konservativen ihre absolute Mehrheit verlieren könnten. Ihre Lösung: Eine erstaunliche Europa-Doppel-Strategie.

Die goldenen Sterne der Europaflagge umkreisen die Landesgrenzen Polens. Links daneben auf der Plakatwand steht der aktuelle Wahlkampfslogan der nationalkonservativen, eigentlich EU-kritischen Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit): „Polen, das Herz Europas". So europafreundlich hat sich die Partei bisher nie präsentiert.

Doch dann tritt Parteichef Jaroslaw Kaczynski vor dem Plakat ans Rednerpult. Der unscheinbare, kleine Mann mit den weißen Haaren, der kein Ministeramt bekleidet, ist Polens mächtigster Politiker. Er bestimmt über den Kurs seines Landes, erst recht über den seiner Partei, so wie an diesem Samstag während eines Konvents im ostpolnischen Lublin.

„Wir sagen ‚Nein' zum Euro, ‚Nein' zu europäischen Preisen", sagt Kaczynski, ans Publikum gewandt. Da ist sie wieder, die altbekannte EU-Kritik. Die Währung diene doch nur den Ländern, die wirtschaftlich stark seien, wie Deutschland oder Holland, schiebt der Parteichef nach. Er spricht, wie so oft, frei und verleiht dadurch seiner Rede mehr Überzeugungskraft. „Egal, mit was für einem Mechanismus man den Euro einführte, wir würden sowieso verlieren."

Es ist Wahlkampf in Polen, im Entscheidungswahljahr, dem wichtigsten seit den ersten freien Wahlen 1990. So zumindest sehen es die Anhänger der Opposition. Die Kampagne zu den EU-Parlamentswahlen im Mai ist für die Opposition ein Prüfstein für die nationalen Wahlen später im Herbst.

Denn wenn die PiS aus den polnischen Parlamentswahlen im Herbst wieder als stärkste Kraft hervorgeht, wird sie die demokratischen Institutionen, wie die Gerichte, weiter schwächen und Polen womöglich unumkehrbar in Richtung Autoritarismus führen, fürchten sie.

Wenn die polnische Opposition sich genug Mandate in Brüssel sichert und dann ein halbes Jahr später das Rennen macht, so hingegen die Furcht der Regierenden, wird sie PiS-treue Richter oder Programmdirektoren der staatlichen Fernsehsender radikal von ihren Posten entfernen.

Einige Oppositionspolitiker drohen sogar, Regierungsmitglieder wegen ihrer antidemokratischen Reformen vor ein Gericht zu stellen. Seit Monaten holen die Gegner der PiS in Umfragen auf; Polen könnte bald schon zum Beweis werden, dass rechtspopulistische Regierungen in Europa tatsächlich abgewählt werden können.

Deswegen ist den Nationalkonservativen keine Kampagne zu schrill, wenn sie dazu dient, ihre Macht zu erhalten. Dass sie auf einmal europafreundliche Töne anschlagen, Kaczynski indes den Euro verdammt, ist der augenfälligste Hinweis darauf.

„Ich sehe hier trotzdem eine gewisse Logik", sagt Piotr Buras WELT. Der Direktor des Warschauer Büros des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) gilt als einer der scharfsinnigsten Beobachter der Politik der Regierungspartei.

„Große Mehrheit der Polen ist proeuropäisch"

„Die große Mehrheit der Polen ist proeuropäisch eingestellt, das gilt auch für die Wählerschaft der PiS", sagt Buras. „Kaczynski inszeniert seine Partei also dementsprechend." Das heißt allerdings nicht, dass deren Anhänger die EU nicht auch kritisch sehen. Kurzum: EU ja, aber anders bitte. Genau deswegen teilt der Chef gegen den Euro aus.

Kaczynski verfügt über ein sensibles Gespür für seine Kernwähler - und auf die kommt es an. Denn Wechselwähler spielen, wie eine aktuelle Studie des ECFR zeigt, in Polen kaum eine Rolle. Jede Partei muss deshalb alles tun, um die eigenen Leute zu mobilisieren. Das gelang der oppositionellen PO (Bürgerplattform) während der Kommunalwahlen im Oktober 2018 zuletzt besser.

Die liberal-konservative Partei konnte die polnischen Großstädte halten. Auch zu den EU-Wahlen kann sie traditionell mehr Menschen zur Stimmabgabe bewegen. Im Mai tritt sie auf einer gemeinsamen Liste mit kleineren Oppositionsparteien unter dem Namen Europakoalition an. Die Wahlvereinigung könnte laut dem Meinungsforschungsinstitut Kantar 35 Prozent der Stimmen bekommen und läge damit dicht an der PiS, die derzeit auf 38 Prozent kommt.

„Die Nationalkonservativen sollten sich Sorgen machen", sagt Buras. „Weil die Opposition zusammensteht, hat sie Aussicht auf Erfolg." Bei nationalen Wahlen dürfte die PiS mit größerem Abstand vorn sein, da sie auf dieser Ebene ihre Wähler besser mobilisieren kann. Dass sie ihre absolute Mehrheit im Unterhaus des polnischen Parlaments verteidigen kann, ist jedoch unwahrscheinlich.

Die Parteiführung ist deswegen nervös und führt besonders aggressive Kampagnen, wie kürzlich die massive Hetze gegen Homosexuelle. Die Vorlage dafür lieferte ausgerechnet der Stadtpräsident von Warschau, Rafal Trzaskowski, Mitglied der PO. Im Februar unterschrieb er als Zeichen für den Schutz sexueller Minderheiten in der polnischen Hauptstadt eine sogenannte LGBT-Erklärung.

Infolgedessen überboten sich PiS-Politiker gegenseitig darin, Homosexuelle zu verunglimpfen. Die Rede war von „Förderung von Pädophilie" und „Sexualisierung von Kindern". Regierungsnahe Medien stimmten mit ein.

Das Ziel dieser Aktion war es, Angst vor einer „Homo-Lobby" zu schüren, vergleichbar mit den Ängsten vor Flüchtlingen. Die hatte die PiS vor den Parlamentswahlen 2015 angeheizt und sich selbst als einzige Kraft inszeniert, die Polen vor diesen „Gefahren" schützen könne.

Mit ihren scharfen Angriffen auf Homosexuelle zwang die PiS die PO, dazu Stellung zu beziehen. In der Opposition waren viele nicht glücklich mit dem Vorstoß von Trzaskowski, immerhin ist selbst ein großer Teil ihrer Wählerschaft stramm konservativ und kann mit LGBT-Rechten nichts anfangen.

Der Versuch, die Opposition zu spalten, ist typisch für die PiS. Zudem hat ihre schwulenfeindliche Kampagne sie rhetorisch für die extreme Rechte akzeptabel gemacht. Die tritt zu den EU-Wahlen unter dem Namen Konfederacja (Konföderation) ebenfalls als Sammelbewegung an und hat gute Chancen, mehr als fünf Prozent der Stimmen zu erhalten.

Auch das gilt als Probelauf für den Herbst. Wenn die PiS bei den nationalen Wahlen nicht die absolute Mehrheit holt, könnte sich die Konfederacja als Juniorpartner in einer Koalition empfehlen. Deren Mitglieder fordern den Austritt Polens aus der EU; einer ihrer Köpfe, Janusz Korwin-Mikke, zeigte im EU-Parlament auch schon mal den Hitlergruß.

Um ihre Macht zu sichern, würde die PiS durchaus mit jenen Leuten eine Regierung bilden. Das führt zu einer paradoxen Situation: Je stärker die liberal-konservative Opposition vom Unbehagen mit der PiS und ihren zum Teil radikalen Positionen profitiert, desto wahrscheinlicher wird eine Öffnung der Regierungspartei für die Rechtsradikalen, da die PiS allein nicht mehr wird regieren können.

Ihren externen Königsmacher hat auch die PO. Erst im Februar gründete der LGBT-Aktivist und ehemalige Stadtpräsident von Slupsk, Robert Biedron, die Partei Wiosna (Frühling). Die liegt aktuell in Umfragen bei zehn Prozent und wäre somit drittstärkste Kraft. Biedron sagte bereits, dass er sich eine Koalition mit der PO vorstellen könne. Wiosna setzt sich für Minderheitenrechte ein und möchte Sozialprogramme umsetzen.

Mit Letzterem konkurriert die Partei nicht etwa mit der PO, sondern der PiS. Kaczynskis Partei tritt zu den EU-Wahlen mit einer Kampagne an, die bereits auf die Parlamentswahlen im Herbst zielt. Sie macht umfangreichen Sozialversprechungen in Höhe von 43 Milliarden Zloty, umgerechnet 10,7 Milliarden Euro.

Unter anderem soll das Kindergeldprogramm 500+ ausgeweitet werden, Rentner sollen vor den Wahlen ein einmaliges Geldgeschenk bekommen. „Daran sehen wir, unter was für einem Druck die PiS steht", sagt Buras vom ECFR. „Mit aller Kraft versucht die Partei, ihre Wähler an die Urnen zu zwingen. In meinen Augen ist das ein Akt der Verzweiflung."

Mitglieder der PiS sehen das freilich anders. Sebastian Kaleta sitzt in einem Café in der Nähe des Justizministeriums in Warschau. Der 30-Jährige zählt zu einer neuen Generation in der Partei.

Nach dem Wahlsieg der PiS 2015 stieg er schnell auf, wurde Pressesprecher im Justizministerium, heute arbeitet er immer noch dort. Er ist mittlerweile ein bekanntes Gesicht des Regierungslagers. Nun hat er angekündigt, dass er für einen Sitz im Europaparlament kandidiert.

Die aktuelle Wahlkampagne liegt ihm am Herzen, sie stehe, wie er sagt, für ein starkes, unabhängiges Polen in der EU. Er möchte nicht, dass das missverstanden wird. „Wir setzen einige unserer Ziele vor den Wahlen um, weil wir zeigen wollen, dass wir zu unseren Versprechen stehen, unabhängig davon, wo jemand sein Kreuz macht, und dass wir die erste Partei sind, die so schnell ihre Ziele umsetzt." Die Oppositionspartei Wiosna habe darauf keinen Einfluss, gibt er zu verstehen. „Wir bauen unsere Position auf Glaubwürdigkeit auf."

Sozial und homophob also, europafreundlich, aber Euro-feindlich: Das Wahlprogramm und die Kampagne der Nationalkonservativen scheinen widersprüchlich zu sein, sind jedoch eine Reaktion auf aktuelle politische Entwicklungen. Ob die PiS damit ihre Macht im Herbst wird sichern können, dafür sind die EU-Wahlen im Mai ein wichtiger Testlauf.

Rétablir l'original