Alexander Iskin nahm vom Tischtennis Abschied, als er Oda Jaune traf. Es war im Jahr 2006, und Iskin, 16 und einer der besten Tischtennisspieler in seinem Alter, musste mit seiner Klasse auf eine Preisverleihung gehen. Der Düsseldorfer Künstler Jörg Immendorff sollte in Goslar den Kaiserring bekommen, einen renommierten Kunstpreis. Immendorff war nicht da, er litt seit Jahren an einer Nervenkrankheit, ein Jahr später starb er. Den Preis nahm stattdessen seine Frau Oda Jaune entgegen, eine ehemalige Schülerin Immendorffs, 26 Jahre alt, dunkle Augen, trauriges Lächeln. Für Iskin, den Sportler, eine andere Welt, ein Erweckungserlebnis. „Du hast das Gefühl, dich fallen zu lassen. Das ist Kunst, alles andere Disziplin", sagt er.
Nach einem Podiumsgespräch ging er auf sie zu. Er sagte: „Ich male auch, du solltest dir meine Bilder ansehen." Eine glatte Lüge. Oda Jaune lächelte. Alexander Iskin fuhr mit ihrer Handynummer nach Hause.
Er hörte nicht von einem Tag auf den anderen auf, Tischtennis zu spielen, es war ein schleichender Prozess. Seinem Trainer teilte er mit, er wolle kein Profi mehr werden. Er wolle nun Kunst machen. In seinem Zimmer sammelte sich Gekritzel. Bei Bekannten seiner Eltern nahm er Zeichenunterricht. „Das waren Auswanderer wie wir, einer war Bühnenbildner, unglaublich präzise", sagt er.
„Es war Libido, ja"Seine Familie stammt aus Moskau. Anfang der Neunzigerjahre kamen sie nach Deutschland, weil sie wirtschaftlich für sich keine Perspektive in Russland sahen. Auch wollten Iskins Eltern, beide Juden, dem Antisemitismus im Land entfliehen. Im Flüchtlingsheim in Seesen hielt Alexander Iskin das erste Mal einen Tischtennisschläger in der Hand. Da war er drei. „Die Bewohner haben zusammengeschmissen, und wir haben uns so eine Allwetterplatte geleistet", sagt er.
Iskins Mutter, eine Geigerin, fand eine Anstellung in einer Musikschule im Goslar. Um Iskin und dessen Schwester kümmerte sich vor allem der Vater, ein Mathematiker, der in Deutschland als Hausmeister arbeitete. „Er erzog uns russisch", sagt Iskin. „Ich musste leisten: Schule, Schule, Schule und viel Sport." Als Jugendlicher fuhr er auf einen Makkabi-Workshop nach Frankfurt. Makkabi ist eine jüdische Sportbewegung. Durch sie wurde er das erste Mal mit seinem Judentum konfrontiert. Zwar habe er gewusst, dass er Jude sei, sagt er, aber nicht, was das bedeuten solle. In Goslar hatte er keine jüdischen Freunde, dank Makkabi lernte Iskin Menschen mit ähnlichen Biografien kennen: russische Auswanderer, Kontingentflüchtlinge. Er spielte fast täglich Tischtennis, hatte einen persönlichen Trainer, rückte auf bis in die Schülernationalmannschaft und holte Titel auf Turnieren im In- und Ausland.
Aber er wurde älter und verlor die Lust. „Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich einen Großteil meiner Zeit damit zubringen will, Plastikbälle hin- und herzuschlagen", sagt Iskin. Er geriet immer öfter mit seinem Vater aneinander, hielt die häusliche Enge nicht mehr aus. Ein zorniger junger Mann. Aber was sollte er tun? Den Sport entsorgen? Die Schule abbrechen? Dann traf er Oda Jaune. Er hat sie nie angerufen und ihr seine Bilder gezeigt, aber die Leidenschaft für die Kunst war geweckt.
„Es war Libido, ja, aber auch der Wunsch auszubrechen", sagt Alexander Iskin. Er steht vor einem seiner großflächigen Werke in seinem Atelier in Berlin-Marienfelde. Snake Driver heißt es. Eine gelbe Figur windet sich über rotschwarzen Grund, die Formen verschwimmen: Chaos. 100 Quadratmeter hat Iskin für seine Kunst. Hier arbeitet er, hier schläft er manchmal hinter einer Trennwand, hier spielt er Tischtennis. Zwischen Leinwänden, Skizzen und offenen Farbflaschen hat er eine Platte aufgestellt. Regelmäßig kommt ein Sparringpartner vorbei. „Es ist wichtig", sagt er, „dass ich wieder Routine kriege."
Alexander Iskin bereitet sich auf die Makkabi Spiele vor, eine Art Olympische Spiele für jüdische Sportler. Dieses Jahr werden die Spiele zwischen dem 27. Juli und dem 5. August in Berlin ausgetragen. Erstmals reisen mehr als 2 000 Teilnehmer zu einem jüdischen Sportereignis nach Deutschland. Die Makkabi Spiele, auch Makkabiade genannt, finden auf dem Gelände des Olympiaparks statt. Dort, wo 1936 jüdische Sportler von den Spielen ausgeschlossen wurden. Alexander Iskin war sich anfangs nicht sicher, ob er mitmachen soll. „Ich kann mich nicht mit allen Idealen der Makkabi-Sportbewegung identifizieren, zum Beispiel mit deren zionistischem Charakter", sagt er. Schließlich hat er sich aber doch dafür entschieden. „Es ist richtig zu zeigen, dass Deutschland heute anders ist, weltoffen und tolerant, und dass es ein neues Judentum gibt, das über die Vergangenheit triumphiert."
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, wie Alexander Iskin nach Berlin kam.Iskin lässt sich auf ein Sofa fallen und schenkt sich Wasser ein. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal anfangen würde, Tischtennis zu spielen", sagt er. Denn nach seiner Begegnung mit Oda Jaune gab es in Iskins Leben ein zweites Ereignis, das ihn noch weiter vom Sport wegbringen sollte. Es war im Juli 2009. Der Künstler Jonathan Meese, bekannt dafür, dass er gern mit Performance-Aktionen oder Hitler-Anspielungen provoziert, eröffnete zusammen mit seinem Freund und Kollegen Herbert Volkmann eine Ausstellung in Goslar. Der Titel: „Fleisch ist härter als Stahl". Unter den Besuchern war auch Alexander Iskin. Ob die beiden sich nicht seine Bilder anschauen wollen, fragte er sie. Nun musste er ja nicht mehr lügen.
Tatsächlich kamen Meese und Volkmann am nächsten Tag in Iskins Jugendzimmer. Meese, der gerne Schwarz trägt, seine langen Haare offen und ein Eisernes Kreuz um den Hals, streifte die Wände entlang, schaute sich die Arbeiten an. Er war begeistert, Herbert Volkmann hingegen skeptisch. Volkmann, ein Altmeister der Berliner Kunstszene, war nicht so bekannt wie Meese, er verweigerte sich oft dem Kunstbetrieb und produzierte nur wenig, dafür aber wurde er von Kennern geschätzt, als stille Größe, sein Wort hatte Gewicht. Meese und Volkmann gaben Iskin noch etwas Zeit.
Ein Jahr später begegneten sie sich wieder. Diesmal erhielt der Regisseur David Lynch den Goslaer Kaiserring. Zu diesem Anlass entwarfen Meese und Volkmann für Lynch eine Installation − und Iskin durfte assistieren. Die beiden Künstler hatten beschlossen, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen, wenig später zog er nach Berlin. Tischtennis spielte er nun gar nicht mehr.
Blut, überall BlutHerbert Volkmann wurde für Alexander Iskin schnell zum Freund. „Wir haben zusammengelebt", erzählt er. „Ich habe viel von ihm gelernt." Volkmann konnte Iskin nicht nur bestimmte Techniken zeigen, er war auch akademisch gebildet, ging mit Iskin Feuilleton-Texte durch, wollte, dass er Kunst auch theoretisch durchdringt. Dass Iskin heute in Bezug auf seine Werke von Existenzialismus reden und Gilles Deleuze zitieren kann, hat er Volkmann zu verdanken.
„Unser Wohnatelier war klein, kochen konnten wir nicht, wir hatten kaum Platz, um zu schlafen", sagt er. „Aber wir haben gemalt, viel gemalt." Zwei Leben in einer Wohnung. Manchmal kam Meese vorbei oder Volkmanns Vater, der sich häufig um seinen Sohn kümmerte. Der Künstler trank und nahm Heroin. Eine Berliner Galerie, Contemporary Fine Arts, bezahlte die Wohnung, dafür musste Kunst geliefert werden. Zum Deal gehörte auch, dass Iskin Stabilität in Volkmanns Alltag bringen sollte. „Einmal kam ich zur Tür herein und auf den Badezimmerfliesen, überall war Blut", erzählt Iskin. Volkmann hatte sich einen Schuss gesetzt, die Nadel war weggerutscht. Iskin wurde wütend, stampfte raus. Nach einer Weile kam er zurück, derweil schrubbte Volkmann bereits alles ab, mit Spülmittel, er hatte ein schlechtes Gewissen. „Er war so gründlich, das war beinahe schon lustig", sagt Iskin. Volkmann sei für ihn da gewesen und er für ihn. „Es war nicht immer leicht, aber wir haben zusammengehalten."
2014 hatte Iskin in der Berliner Galerie Sexauer seine erste Einzelausstellung; unter dem Titel „Bastard Club" zeigte er fünfzehn Werke. Einige Monate zuvor waren sich Iskin und Oda Jaune während der Monopol Masters wiederbegegnet. Dass sie es war, die ihn zum Künstler machte, sagte er nicht. Bis heute weiß sie es nicht.
Herbert Volkmann ist vor einem Jahr gestorben. Mit 60. Jonathan Meese ist weiterhin ein wichtiger Mensch, ein Freund für Iskin, mit dem er viel Zeit verbringt. Iskin sagt, Oda Jaune sei die Initialzündung gewesen. „Und Meese der erste, der mir das Gefühl gab, dass es gut sein kann, Fehler zu machen."
Zurückgekehrt ist der Sport. Iskin, der in den letzten Jahren nur zu einer Handvoll Menschen Kontakt hatte, fast alle aus der Kunstszene, sagt: „Ich musste wieder raus, mir andere Regelmäßigkeiten schaffen." Die Makkabiade hat sich angeboten. Seine beiden Leidenschaften können nun nebeneinander stehen. „Am Tischtennis mag ich die Schnelligkeit und die Antizipation", sagt er. Es sei beruhigend, etwas auf den Punkt genau zu tun. Kunst sei das Gegenteil davon.
Iskin steht in seinem Atelier vor dem letzten, unvollendeten Werk seines Freundes Volkmann. Es ist ein Doppelporträt, links Iskin, rechts eine unfertige Figur, die Linien verlaufen in weißes Nichts.