Hans Gehrt von Aderkas wackelt auf seinen Krücken zur Kaffeemaschine. Er besteht darauf, den Kaffee selbst zuzubereiten. „Ich muss nur einen Knopf drücken", sagt er. Er stellt den Kaffee auf den Tisch und seine „Stöcke", wie er sie nennt, gleich neben den Stuhl. Wenn man von Aderkas an dem großen Tisch in seinem Wintergarten sitzen sieht, im gebügelten Hemd, stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen und einen lockeren Spruch zur Hand, könnte man meinen, dem Mann fehle nichts.
Tatsächlich ist es so, dass von Aderkas vor allem eines fehlt: die Selbstständigkeit. Von vielen anderen Dingen, die vor der Diagnose „Multiple Sklerose" vor 15 Jahren noch wesentliche Bestandteile seines Lebens waren, habe er loslassen können. Von seinem Job als Personalberater zum Beispiel. Von seinem Hobby, dem Vespa-Fahren. Und vor einiger Zeit auch von seiner Diagnose-Lüge, wie er sagt.
Das Thema Loslassen beschäftige ihn auch unabhängig von seiner Krankheit schon lange, sagt der Bremer. Mandanten seien zum Beispiel immer wieder mit dem Wunsch auf ihn zugekommen, einen Nachfolger für sie zu suchen. Dann habe er als Headhunter jemanden für das Unternehmen gefunden, häufig seien die Mandanten aber kurze Zeit später doch wieder zurückgekehrt - weil sie nicht loslassen konnten.
Das Loslassen habe er dann auf viele andere Bereiche übertragen. Auf die Kinder, die von zu Hause ausziehen; bis hin zum Loslassen vom Leben, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Deshalb hat er nun ein gleichnamiges Buch verfasst, gemeinsam mit dem Autor Helge Hommers. In dem Buch kommen auch andere Menschen zu Wort, die von etwas losgelassen haben. Im April ist es erschienen. Es sei das Projekt gewesen, das er immer angestrebt habe, wenn er in Rente gehen würde, sagt von Aderkas.
Alles fing an, als von Aderkas eines Tages Joggen ging. Da knickte sein rechter Fuß immer wieder weg. Ziemlich schnell wurde ihm klar, dass er sich untersuchen lassen muss. Es folgten viele Monate mit Klinikaufenthalten und Tests. Bis feststand: Hans Gehrt von Aderkas hat MS. Multiple Sklerose.
Von Aderkas, der 1956 im westfälischen Lübecke geboren ist, hat seine Krankheit lange geheim gehalten. Nur seine Frau Bettina - die er liebevoll Bettsy nennt - und sein Bruder, der Arzt ist und vor dem er seine Leiden sowieso nicht hätte verstecken können, wussten seit der Diagnose von der Krankheit. Von Aderkas ist überzeugt: „Es hätte sich negativ auf meine Arbeit ausgewirkt. Niemand möchte jemanden beauftragen, der angeschlagen ist." Auch seinen drei Kindern hat er nichts gesagt. Natürlich sei es dem ein oder anderen aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Aber dann habe er immer gesagt, dass es sich um einen neurologischen Defekt handele - was ja auch stimmte. Er habe in diesen Situationen schnell vom Thema abgelenkt.
Von Aderkas ist Optimist, das spürt man sehr schnell, wenn man ihm zuhört. Das hat er von seiner Mutter geerbt, sagt er. Den Kampfgeist habe er von seinem Vater, der im Krieg beide Füße und einen Arm verlor. „Es gibt aber auch Momente, in denen ich auf die Tischkante beiße", sagt von Aderkas. Wenn er mal wieder hingefallen ist. Oder wenn er einmal mehr merkt, wie sehr er auf die Hilfe seiner Frau angewiesen ist.
Von seinem Beruf ist von Aderkas zwar erst mit 62 Jahren zurückgetreten. Aber: „Ich habe ihn wahnsinnig gerne gemacht. Wenn es noch ginge, würde ich meinen Beruf noch heute ausüben." Die Kollegen, die Firma, die Mandanten fehlen ihm - klar. „In diesem neuen Lebensabschnitt gibt es aber auch viele schöne Aspekte", sagt von Aderkas. Er genießt das Leben viel mehr, konzentriert sich nicht mehr auf „Kleinscheiß."
Er nimmt die Natur anders wahr als er es vorher getan hat, wenn er mit seinem Handbike über den Wümmedeich fährt. „Ich sehe Bäume, die ich vorher nicht gesehen habe und merke, wie schön das ist", sagt er. Bisher habe er noch keine Langeweile gehabt, denn er hatte ja das Buchprojekt vor sich. Und er unterstütze seine Tochter und seine Frau, die beide Vollzeit in einer Apotheke arbeiten, gelegentlich. „Sicher auch mit Klugscheißerei", gibt von Aderkas zu und muss lachen. Aber das sei er schon immer gewesen, ein Klugscheißer.
Die Langeweile ist eine seiner Sorgen. Eine andere: Dass er sich irgendwann nur noch im Rollstuhl und nicht mehr auf seinen Stöcken fortbewegen kann. Davor hat er Angst. Und davor, dass weitere Symptome hinzukommen. „Gerade habe ich das Gefühl, dass die Krankheit auf einem hohen Niveau stagniert. Und es würde mir schon reichen, wenn das so bleibt", sagt er.
Neben der Gehbehinderung kann er außerdem seinen rechten Arm nicht mehr richtig benutzen, die Feinmotorik sei weg. Die Krankheit habe aber so viele Facetten, sie könne beispielsweise auch auf Gehirn oder Blase schlagen. „Das wäre ganz ätzend", sagt von Aderkas. Zwar sei er in vielen Lebensbereichen auf Unterstützung und Hilfe angewiesen, aber sich selbst anziehen und waschen, das könne er noch.
Jetzt, da sein Buch erschienen ist, möchte von Aderkas gleich wieder ein neues Projekt angehen. Nach 25 Jahren will er mit seiner Frau aus dem Haus in Schwachhausen ausziehen und in eine Wohnung ziehen. „Ich möchte diese Entscheidung treffen, solange ich es kann", sagt er.
Die Kaffeetassen wegzuräumen, dabei lässt sich Hans Gehrt von Aderkas dann doch helfen. Es gibt eben immer noch Dinge, auf die er gerne verzichtet.