„Du siehst aus wie eine Katze", ruft ein Flaschensammler Marika Nagy zu. Sie lacht und ignoriert ihn. „Ich habe gemerkt, dass er mich angeschaut hat und habe schon vorher zurück gestarrt", sagt sie. Das ist Nagys Strategie, wenn Menschen auf der Straße sie angucken. Einfach zurückstarren, dann merken die Leute schon, wie doof sie geschaut haben.
Dass Marika Nagy auf der Straße auffällt, weiß sie. Denn sie sieht anders aus als die meisten Menschen. Ihr ganzer Körper ist mit großen Muttermalen betupft. Die Bremerin hat eine seltene Pigmentstörung, die sich Kongenitaler Nävus nennt. Es ist ein Gendefekt, der nicht vererbbar ist. „Ich habe Glück, dass es nur Farbe ist", sagt Nagy. Denn gesundheitlich beeinträchtigt sie die Krankheit nicht. Nur in der Sonne muss die 22-Jährige etwas aufpassen, weil das Hautkrebsrisiko für sie höher ist als bei anderen Menschen.
Was wie ein Makel wirken mag, ist Marika Nagys Kapital. Denn sie ist Model und steht für Vielfalt in Werbekampagnen, die fast auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden. Zu ihren bislang größten Auftraggebern zählt die Rasierermarke Gilette, die zu dem Großkonzern Procter and Gamble gehört. Auf Instagram wirbt Nagy unter dem Namen „Marynevus" für Selbstliebe und für die Body-Positivity-Bewegung. Die hat sich zum Ziel gesetzt, andere Menschen davon zu überzeugen, dass ihr Körper schön ist, auch wenn er nicht der Norm entspricht. Im Internet zeigt sich Nagy auf Bildern in Unterwäsche und bezeichnet sich in ihrer Instagram-Biographie als „probably the finest chocolate chip cookie", also den vielleicht besten Schokochip-Keks.
Das erste Unterwäsche-Bild, daran erinnert sich Nagy noch gut. „Danach habe ich erstmal geheult", sagt sie. Denn gerade von Männern werde sie oft nicht als Frau, sondern als Kumpel wahrgenommen. „Du bist nicht so mein Typ" - diesen Satz habe sie schon oft gehört. Mit den Fotos in Dessous fühlte Nagy sich zum ersten Mal richtig weiblich. „Mir ist egal, bei wem ich ankomme und bei wem nicht. Es ist okay, wenn mich Leute hässlich finden", sagt sie heute.
Es war nicht immer so, dass Nagy derart selbstbewusst mit ihrer Hautkrankheit umgehen konnte. Die seelischen Narben, die ihre Schulzeit hinterlassen hat, werden womöglich für immer bleiben. Nagy sagt, sie wurde aufs Übelste gemobbt, gehänselt, hat gar sexuelle Übergriffe erlebt - von Schülern, aber auch von Lehrern. Niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben, weil ihre Haut anders pigmentiert ist, erzählt sie. In dieser Zeit habe sie oft darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen.
Eigentlich sei Nagy immer ein Steh-auf-Männchen gewesen, habe sich nicht lange an Negativem aufgehalten. „Aber wenn einem sowas passiert, bricht selbst die stärkste Person. Irgendwann war ich nicht mehr ich selbst, sondern nur noch, was andere aus mir gemacht haben." Heute sagt sie, dass die Erfahrungen sie noch stärker gemacht und sie geprägt haben. Und sie sei zielstrebiger geworden, weil sie gemerkt habe, dass sie Ziele haben muss, wenn sie etwas erreichen will.
„Ich wollte immer Schauspielerin werden", sagt Nagy. „Tief in mir ist das immer noch mein Ziel." Aber im Vordergrund steht für sie nun das Modeln - „Hauptsache, vor der Kamera. Auch wenn das total mediengeil klingt." Aber das Modeln sei vor allem harte Arbeit. „Man muss abliefern und manchmal von morgens bis abends dastehen."
Es hat Nagy immer gereizt, in andere Rollen zu schlüpfen. Und genau das begeistert sie an ihrem Job: „Es ist so, als würde man immer eine neue Geschichte erzählen." Oft muss sie selbst Bilder machen, mit denen sie Produkte bewirbt, und diese in den Sozialen Netzwerken in einer Geschichte verpacken. Dafür muss sich Nagy mit dem Produkt auseinandersetzen und sich passende Texte überlegen. Noch gehört „Marynevus" mit ihren knapp 4000 Instagram-Abonnenten nicht zu den Größen der Social-Media-Welt. „Ich würde mich nicht als Berühmtheit bezeichnen. Aber es würde mich nicht stören, wenn es da irgendwann hin geht", sagt sie.
Der Weg in die Selbstliebe
Denn Nagy möchte vor allem eines: präsent sein und auf etwas aufmerksam machen. „In meiner Kindheit wusste ich nicht einmal, dass es einen zweiten Menschen auf der Welt gibt, der so aussieht wie ich", sagt sie. Heute ist sie sich bewusst, dass der Kongenitale Nävus zwar eine seltene Krankheit, sie aber nicht allein damit ist. Und dass es okay ist, dass sie anders ist. „Man muss nicht unbedingt die gleiche Krankheit haben. Ich möchte jeden ansprechen, der seinen Körper nicht so akzeptieren mag wie er ist, weil er anders aussieht, und ihm klar machen, dass es nicht so sein muss." Auf ihrem Weg in die Selbstliebe spielten die sozialen Medien für Nagy eine große Rolle, egal, was man ihnen vorwerfen möge.
Auf Instagram spricht die Bremerin in ihren Videobeiträgen häufig Englisch mit britischem Akzent - damit auch ihre fremdsprachigen Abonnenten sie verstehen. „Ich bin bilingual aufgewachsen, meine Mutter kommt aus Großbritannien", erklärt sie. Irgendwann, sagt sie, möchte Nagy vielleicht mal in England leben. So lange fährt sie einmal im Jahr nach London, in ihre Lieblingsstadt.
Vor zwei Jahren hat die 22-Jährige einen Sohn bekommen. Das hindere sie am meisten daran, aus Bremen wegzuziehen. Hier hat die Alleinerziehende ihre Familie, die auf das Kind aufpassen kann, wenn sie ein paar Tage lang dreht. Die Geburt war ein Schlüsselpunkt in Nagys Leben, sagt sie. „Sobald man ein Kind hat, verschiebt man all seine Prioritäten." Vieles an ihrem Job mache sie jetzt auch für ihren Sohn. „Damit er niemals an einen Punkt kommt, an dem er denken muss, er sei weniger wert", sagt Nagy. Ihr Sohn hat keinen kongenitalen Nävus.