Zoryan Kis und Tymur Levchuk, seit Jahren ein Paar, schlendern erstmals Hand in Hand durch Kiew. Eine Kamera begleitete sie, um Reaktionen einzufangen. Kein ungefährliches Experiment, denn homosexuelle Paare, die sich öffentlich zeigen - das ist in der Ukraine keine alltägliche Episode. „Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie zwei Männer Hand in Hand auf der Straße gesehen", erzählt Zoryan Kis, 32 Jahre alt, kurze dunkle Haare und Dreitagebart. Er sitzt in einem Café, nicht weit vom Maidan.
Wer sich das Video anschaut, könnte erstaunt sein: Die meisten Passanten nehmen nicht sonderlich Notiz von dem männlichen Paar, nur einige starren verdutzt, andere laufen gleichgültig vorbei. „Könnt ihr euch für uns küssen?", kichert eine Gruppe junger Frauen und will Fotos schießen. Gegen Ende des Videos - Tymur Levchuk sitzt in einem Park auf dem Schoß von Zoryan Kis - baut sich eine Gruppe vor den beiden auf. Das seien Rechtsradikale gewesen, erzählt Kis. Man sieht, einer zieht eine Dose Pfefferspray, die andere rücken den beiden bedrohlich näher. Augenblicke später drehen die Männer ab und ziehen davon.
Der Film liefert Momentaufnahmen. Wie Menschen in der Ukraine leben, die lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender (LGBT) sind, kann diesen Eindrücken nur bedingt entnommen werden. Umfragen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten ergaben in der Regel, dass eine Mehrheit der Auffassung ist, Homosexuelle sollten nicht so leben können, wie sie wollen, das sei widernatürlich und sittenwidrig. Der Umsturz vom Februar 2014 weckte bei den Betroffenen die Hoffnung, wenn sich die Ukraine der EU annähere, dann werde sie das nur als ein liberales Land tun können. Das müsse sich auch auf die Lebensumstände von Minderheiten auswirken.
Anderthalb Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Der rechtliche Schutz von LGBT sei zwar umfassend, „könnte aber stärker sein", urteilt Yuri de Boer, Experte beim Europarat und von Amts wegen zur Zurückhaltung verpflichtet. Stärker heißt: Sexuelle Minderheiten sollten wie andere Minderheiten auch durch das Gesetz explizit geschützt werden. Aus dem Entwurf für eine neue Verfassung wurde eine entsprechende Passage wieder gestrichen. Der Grund: Der orthodoxe Klerus und rechtskonservative Parteien hatten interveniert. Wer sein Geschlecht im Pass ändern will, wird immer noch zu einer Operation genötigt, der eine psychiatrische Untersuchung vorausgeht. Wer sich einer solchen Prozedur unterzieht, muss sie unter Umständen jahrelang ertragen.
„Wir glaubten, der Maidan würde uns mehr Rechte bringen, doch das war eine trügerische Hoffnung", sagt Kis. Andererseits gibt es Hinweise auf eine vorsichtige Öffnung und mehr Toleranz. „So wurden alle Versuche eingestellt, Gesetze gegen sogenannte homosexuelle Propaganda zu verabschieden", sagt Yuri de Boer. Zudem wollen Politiker dem Thema offenbar nicht länger ausweichen. Die Abgeordneten Serhij Leshchenko und Svitlana Zalishchuk aus der Präsidentenpartei Block Petro Poroschenko ließen sich am 6. Juni 2015 sogar auf der zweiten Gay Pride mit etwa 300 Teilnehmern am Rande der Kiewer Innenstadt sehen.
Dass die Parade überhaupt stattfand, galt bereits als Erfolg für die Aktivisten. Ein Jahr zuvor, direkt nach dem Maidan, war ein solches Meeting aus Sicherheitsgründen verboten. Widerstände habe es auch jetzt gegeben, erinnert sich Kis, der als einer der Organisatoren wochenlang mit der Polizei verhandelt hatte. „Einen Tag vor dem Marsch kam die Zusage." Präsident Poroschenko hatte zuvor zwar nicht die Ziele, aber immerhin das Demonstrationsrecht der Aktivisten öffentlich verteidigt, was man bisher so noch nie in der Ukraine erlebt hatte.
Um die Teilnehmer zu schützen, wurde der Veranstaltungsort bis zuletzt geheim gehalten. Rechtsextreme Gruppen - teilweise organisiert und inspiriert vom Rechten Sektor - hatten angekündigt, den Marsch „zerschlagen" zu wollen. Erst Stunden vor der Parade, gegen acht Uhr morgens, wurden die Demonstranten per SMS über die genaue Route informiert. Es dauerte trotzdem nur Minuten, bis fast so viele Schläger auftauchten, wie es Teilnehmer gab. „Ein paar Dutzend rannten von vorn auf uns zu. Zum Glück war die Polizei auf unserer Seite", berichtet Kis. Ein Polizist wurde von einem Splitter am Hals getroffen, als Angreifer mit Metallteilen gespickte Knallkörper in die Menge schleuderten. Später hetzten Schläger Menschen durch die angrenzenden Straßen.
Dieser Überfall auf die Gay Pride 2015 war bislang der spektakulärste Übergriff in diesem Jahr, aber längst nicht der einzige. „Ich habe das Gefühl, dass die Gewaltbereitschaft im Moment eher wieder zunimmt", sagt Zoryan Kis. Im Oktober 2014 wurde in Kiew ein Filmfestival während der Vorführung von LGBT-Filmen gleich zweimal überfallen. Ein Kino brannte aus. Zwar gibt es Gerüchte, hinter dem Brandanschlag stehe ein Streit um die Immobilie, doch deuten laut Innenministerium die Umstände auf homophobe Motive. Bohdan Zhuk, der seit einem Jahr für die LGBT-Filmreihe zuständig ist, lässt keinen Zweifel: Proteste habe es auch früher gegeben, nicht aber derart heftige Attacken.
Der LGBT-Verband Nash Mir, der Gewaltakte und Drohungen erfasst, hat mehr als 30 Angriffe auf Leib und Seele zwischen Oktober 2013 und Dezember 2014 dokumentiert. Immer wieder verabreden sich Gewalttäter online mit zumeist schwulen Männern zu vermeintlichen Dates, um sie dann brutal zu misshandeln. Viele Täter halten Kontakt zu rechtsextremen Vereinigungen, finden zwar keineswegs öffentlichen Beistand, stoßen aber zugleich auf wenig Widerstand aus Gesellschaft und Politik.
Es bleibt Vorsicht geboten. Die Organisation LiGA im südukrainischen Mykolajiv hat ihr Hauptquartier im Zentrum der Provinzhauptstadt, in der eine halbe Million Menschen leben und der traditionelle Schiffbau gerade nicht überlebt. Kein Klingelschild, keine Regenbogenflagge weisen den Weg. Drinnen zeigt ein Monitor die Aufnahmen mehrerer Überwachungskameras. Vor einiger Zeit gab es einen Einbruchsversuch. „Unser Alltag hat sich seit dem Maidan nicht sehr verändert", sagt Oleg Alyokh. Kiew ist weit weg, sieben Stunden über schlechte Straßen, um genau zu sein. Die Community ist in Mykolajiv weitgehend auf sich allein gestellt. Geld komme eher von NGOs aus dem Ausland als vom Staat, sagt Alyokh. Sein Verein bietet einen Aufenthaltsraum, zweimal pro Woche medizinische und psychologische Hilfe, dazu HIV-Prävention, ab und zu eine Party. Einschlägige Bars oder Clubs sucht man in der Stadt vergeblich.
Die Geschichten, von denen im LiGA-Büro zu hören ist, ähneln sich. Sie schildern Eltern, die die Homosexualität ihrer Kinder dulden, aber nicht darüber sprechen wollen - sie zeugen von Diskriminierungen oder düsteren Berufsaussichten, bei denen eine lesbische Beziehung zusätzlich von Nachteil sein kann, wie eine angehende Lehrerin fürchtet, die ihren Namen nicht nennen will. „Es haben einfach immer noch sehr viele Menschen Vorurteile."
Zoryan Kis, der für die US-Stiftung Freedom House arbeitet, sagt trotzdem, dass er an einen Wandel glaube. Andernfalls wäre er längst ausgereist.
Jonas Schaible und Othmara Glas sind freie Autoren und waren als Reisekorrespondenten in der Ukraine unterwegs.