1 abonnement et 0 abonnés
Article

Österreich hat seine erste Kanzlerin: Drei Dinge, die sich deshalb jetzt ändern

Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin von Österreich, vor Beginn einer Parlamentssitzung ©Ronald Zak/AP/DPA

Nach der Einführung des Frauenwahlrechts brauchte Österreich also noch einmal hundert Jahre, bis am 3. Juni 2019 die erste Frau zur Bundeskanzlerin ernannt wurde. Zwar auch nur übergangsweise - aber immerhin! Für junge Frauen im Land ist das ein positives Signal.

Und es war überfällig, wie die Reaktionen zeigen. In einem Land, in dem nur im Ausnahmefall eine Frau Regierungschefin werden kann, wissen viele nicht, wie sie mit diesem progressiven Bild umgehen sollen. Die logische Folge: Objektifizierung und Sexismus. Kaum wurde Brigitte Bierleins Angelobung verkündet, füllten sich die Foren einiger Zeitungen mit sexistischen Kommentaren. Die Bundeskanzlerin wurde von Society-Redakteuren anhand ihrer Outfits, "prachtvollen Mähne" und "Beinfreiheit" analysiert. Vielleicht dauert es noch weitere hundert Jahre, bis Frauen nicht mehr systematisch auf ihr Äußeres reduziert werden. In der Zwischenzeit freue ich mich trotzdem über das historische Ereignis.


Der positive Ausgang von #ibizagate

Vor allem freue ich mich als Österreicherin, die die letzten Wochen in Wien als pures Gefühlschaos miterlebt hat, über diesen positiven Ausgang von #ibizagate.

Denn es ist ganz einfach an der Zeit, dass in Österreich eine Frau an der politischen Spitze steht. Ja, das ist für einige vielleicht unbequem, weil dadurch patriarchale Strukturen noch klarer aufgezeigt werden. Zudem wird damit auch verdeutlicht, warum dieses kleine Land von einer Gleichstellung noch sehr weit entfernt ist. Aber - sorry, not sorry - auch für diesen Tritt in den Hintern ist es an der Zeit.


Mit der Angelobung der ersten Bundeskanzlerin und ihrem Kabinett wurde Gender Equality ein Stück weiter in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Das macht Brigitte Bierlein feministischer, als sie vielleicht sein wollte - mit ersten sichtbaren Folgen:


1. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss endlich gendern

Der österreichische Rundfunk will "wie wir" sein, glaubt man seinem Claim. Ein kleines Detail hatte das öffentlich-rechtliche Fernsehen dabei aber bis heute vergessen: zu gendern.

Dafür brauchte es erst eine Bundeskanzlerin und ein Kabinett, in dem es so viele Frauen gibt, dass diese nicht mehr einfach nur "mit gemeint" werden können.

Mit sechs Frauen und sechs Männern herrscht in der österreichischen Regierung erstmals Geschlechterparität und dadurch auch im TV: Die Nachrichtensendung "ZiB2" hatte mit der Headline "Die Staats-DienerInnen" ihre Gender-Premiere, die Anchorman Armin Wolf auf Twitter feierte.


Bei Lena Jäger, Projektleiterin des Frauen*Volksbegehrens, war die Freude darüber nicht ganz so groß, schließlich ist der ORF mit dem Binnen-I im Jahr des dritten Geschlechts etwas spät auf der Party:


Im Jahr der Einführung des dritten Geschlechtes kommt der @ORF beim Gendern an. Oder: Es braucht eine Bundeskanzlerin damit das Fernsehen entdeckt, dass auch Frauen Politik machen. https://t.co/mk5WIH93sd

- Lena Jäger (@LJaegerin) 4. Juni 2019

Ob gegenderte Headlines im österreichischen Rundfunk zur Norm werden, ist unklar.

Warum das sinnvoll wäre, wird übrigens seit 2002 in einem Leitfaden des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung festgehalten: "Geschlechtergerechte Sprache macht Frauen und Männer symmetrisch präsent und fördert das Bewusstsein der Gleichwertigkeit."


2. Eine Frau an der politischen Spitze verändert die gesellschaftliche Wahrnehmung

Auch, wenn von Bierlein nicht erwartet wird, feministische Politik zu machen, verändert es unsere Wahrnehmung, wenn nach hundert Jahren (for real) plötzlich eine weibliche Identität an der Regierungsspitze zu sehen ist.

Dieser historische Moment formt die männliche Schablone in unseren Köpfen um, normalisiert das Bild einer Kanzlerin und öffnet damit den Weg für weitere Frauen. Das mag für misogyne Politiker*innen verstörend sein, denn es räumt weiblichen Identitäten einen Platz in der Spitzenpolitik ein, wie auch Christian Berger, Sprecher des Frauen*Volksbegehrens anmerkte.


Es ist kein feministischer Erfolg, dass Bierlein designierte Bundeskanzlerin ist. Sie wird keine feministische Politik machen. Dennoch: Es zählt, dass eine Frau Bundeskanzlerin ist. Es räumt Frauen in der Spitzenpolitik einen legitimen Platz ein. Es verändert unsere Wahrnehmung.

- Christian Berger (@chris_berg_er) 30. Mai 2019

Wie das geht, zeigte die designierte Kanzlerin auch gleich am ersten Wochenende, indem sie ihre Übergangsregierung mit gleich vielen Frauen wie Männern besetzte.


3. Die Bundeskanzlerin meint Frauen nicht mehr nur mit, sie hebt sie hervor

Sie war die erste weibliche Generalanwältin 1990, die erste Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes 2018 und ist nun die erste Kanzlerin Österreichs: Brigitte Bierlein ist es gewohnt, sich gegen degradierendes Verhalten von männlichen Kollegen durchzusetzen, wie sie in einem Interview mit dem ORF im März 2019 erklärte: "Es war für die älteren Herren schon ein Gewohnheitseffekt, dass eine Frau auch die gleiche Leistung erbringen kann wie ein Mann."


1 sehr treffender Kommentar von @ginaginella zu #Bierlein: "Zur Erinnerung: #Feminismus heißt genau, dass Frauen keine besseren Menschen sein müssen, die 5x so viel leisten, sondern genau gleich mittelmäßig sein dürfen wie Männer und ihnen trotzdem 50% der Welt zustehen." ✊❤️

- Vicky Spielfrau (@VickySpielfrau) 30. Mai 2019

Auch, wenn sie aufgrund ihrer Nähe zu den konservativen Parteien nicht als Feministin gilt, tut sie in ihrer ersten Rede als Bundeskanzlerin etwas, das kein Politiker vor ihr schaffte. Sie hebt junge Frauen hervor, spricht diese gezielt an - und unterstützt damit den gesellschaftlichen Perspektivenwechsel: "Ich möchte mich aus diesem Anlass vor allem an die Jugend und insbesondere an die jungen Frauen wenden. Unser Land, unsere Demokratie braucht Sie alle."

Rétablir l'original