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Frontbegradigung: In ihrem Herkunftsland Frankreich sind die Identitären verboten worden – weil die Regierung innenpolitisch nach rechts gerückt ist

Dreißig junge Menschen stehen am 19. Januar 2021 auf dem Pyrenäen-Pass Portillon, um Migranten und Migrantinnen vom Grenzübertritt nach Frankreich abzuhalten und "Europa zu verteidigen". Es sind Mitglieder der Génération Identitaire (GI); Migranten und Migrantinnen treffen sie nicht an, und die Aktion wäre auch deshalb nicht nötig gewesen, weil die französische Gendarmerie bereits für einen erbarmungslosen Grenzschutz sorgt. Doch darum geht es nicht. Die Identitären betreiben ihr Kerngeschäft: das Erzeugen von Aufmerksamkeit. Es ist keineswegs das erste Mal, dass sie sich dafür in den Bergen oder zu Wasser als Unterstützer/innen des Grenzregimes andienen. Im Jahr 2016 hatten Anhänger/innen der GI Zufahrten zum Geflüchtetenlager von Calais blockiert, 2018 standen sie auf einem Alpen-Pass herum. Zur bis heute bekanntesten Aktion der selbsternannten Bewegung wurde die "Mission Defend Europe", für die Identitäre aus mehreren Ländern 2017 ein Schiff charterten, um auf dem Mittelmeer Geflüchtete an der Überfahrt zu hindern.

Insofern ist die Performance in den Pyrenäen identitäres business as usual. Und doch fällt die Reaktion der französischen Politik diesmal ganz anders, nämlich deutlich schärfer aus als üblich. Mit Verweis auf die Pyrenäen-Operation kündigte Innenminister Gérald Darmanin noch im Januar an, die GI verbieten zu wollen. Rasch brachte er die Auflösung der Gruppe auf den Weg, sie stifte zu "Diskriminierung, Hass und Gewalt" an und agiere wie eine Privatmiliz. Am 3. März stimmte das Kabinett dem Verbot zu. Kritik kommt von prominenten Vertretern und Vertreterinnen des rechten Rassemblement National (RN, früher Front National) - darunter Marine Le Pen -, der eng mit der Génération Identitaire verbunden ist. Deren Anführer Damien Rieu etwa arbeitet für Philippe Olivier, Europaabgeordneter des RN. Die GI kündigt an, gegen das Verbot juristisch vorzugehen.

Die Auflösung der Gruppe hat europaweite Bedeutung, gerade auch weil sie die Identitären in ihrem Herkunftsland Frankreich trifft. So begrüßte das Internationale Auschwitz-Komitee bereits die Verbotsankündigung mit dem Verweis auf ihre Signalwirkung, "die angesichts der zunehmenden Bedrohung durch antisemitische und rechtsextreme Gruppierungen in Europa" weit über Frankreich hinausreiche, wie es der Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner, formulierte. Vor allem in Deutschland und Österreich haben die Identitären größere Ableger, in Österreich ist derzeit ein Verbot ihrer Symbole im Gespräch.

Die GI entstand in den Nullerjahren als Jugendgruppe des Bloc Identitaire, der als Folgeorganisation der im August 2002 verbotenen faschistischen Organisation Unité Radicale gegründet worden war. Eines der Mitglieder von Unité Radicale hatte zuvor, am Nationalfeiertag 2002, einen misslungenen Mordanschlag auf den damaligen Präsidenten Jaques Chirac verübt.

Im Oktober 2012 trat die GI mit der Besetzung einer Moscheebaustelle in Poitiers spektakulär in Erscheinung. Ihre ideologischen Grundlagen sind heute gemeinhin bekannt, auch weil Versatzstücke davon bis weit in die sogenannte Mitte westlicher Staaten Einfluss entfalten konnten: Ethnopluralismus, der Glaube, es gebe einen grassierenden "Rassismus gegen Weiße", die Vorstellung, europäische "Eliten" arbeiteten gemeinsam mit NGOs an einem "großen Austausch". Dessen maßgeblicher Ideologe Renaud Camus stammt ebenfalls aus Frankreich. Faszination, insbesondere unter Journalisten und Journalistinnen, erzeugte das frische Auftreten der jungen Aktivisten und Aktivistinnen, die sich der Neonazi-Ästhetik entledigten und auch eher linke Aktionsformen - wie das Erklimmen von Gebäuden und das Abbrennen von Pyrotechnik - anwendeten.

Dass die Abgrenzung von klassischen Neonazi-Gruppen sich in der ästhetischen Inszenierung auch schon erschöpfte, offenbarte sich dem verzauberten Journalismus spätestens, als herauskam, dass der spätere Attentäter von Christchurch sowohl an die französischen als auch an die österreichischen Identitären gespendet hatte. Doch liegt dies bereits einige Zeit zurück, weshalb das nun eilig in Frankreich durchgesetzte Verbot die Frage nach der Motivation der Regierung aufwirft. Denn wie gesagt: Die GI-Aktion in den Pyrenäen, der Auslöser des Verbotsverfahrens, hatte keine neue Qualität. Warum also handelt Macrons Innenminister Darmanin gerade jetzt und warum so entschlossen?

Betrachtet man es aus Sicht der Regierung, dient das Verbot wohl vor allem einer politischen Frontbegradigung. In den vergangenen Monaten hat das französische Regierungslager einen über alle Strömungen hinweg als solchen wahrgenommenen Rechtsschwenk vollzogen, mit dem allem Anschein nach konservative und rechte Wähler/innen gebunden werden sollen. Macron geht auch deshalb hart gegen die GI vor, um sich von der radikalen Rechten abzugrenzen, von der sich auch das umworbene bürgerlich-rechte Lager distanziert. So möchte er die Stimmen der Rechten gewinnen und sich gleichzeitig als Kämpfer gegen den Rechtsextremismus inszenieren.

Um dies nachzuvollziehen, lohnt ein Blick zurück auf die französische Innenpolitik der vergangenen Monate. Im Sommer 2020 hatte Macron sein Kabinett umgebildet und wichtige Positionen mit Ex-Republikanern (Les Républicains, früher UMP) besetzt. Darunter der am Identitären-Verbot wesentlich beteiligte Gérald Darmanin, den Macron vom Haushalts- zum Innenminister beförderte - ein Ziehsohn des letzten konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Der Regierungsumbildung vorausgegangen waren ein extrem schlechtes Abschneiden von Macrons Partei La Republique en Marche bei den Kommunalwahlen im Sommer 2020 sowie Absetzbewegungen innerhalb der Partei. Macrons Basis ist seit jeher schmal. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 hatten ihm nur 18 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme gegeben, er profitierte von dem faktischen Zusammenbruch des Parti Socialiste, der Uneinigkeit der Linken, dem Korruptionsskandal um den konservativen Kandidaten François Fillon - und im zweiten Wahlgang von dem Willen vieler Menschen, Le Pen als Präsidentin zu verhindern.

Vier Jahre später liegt der seither mehrfach gespaltene Parti Socialiste weiter am Boden, die Linken stellen keine wirkliche Gefahr für Macron dar, und Wähler/innen etwa des linken Populisten Jean-Luc Mélenchon ließen sich ohnehin schwer für Macron mobilisieren; bereits bei der Stichwahl 2017 zwischen Macron und Le Pen blieben viele von ihnen den Wahlurnen fern oder gaben nur zähneknirschend ihre Stimme ab. Le Pen indes liegt heute in einigen Umfragen vor Macron, und die Republikaner haben seit 2017 einen spektakulären Verfallsprozess durchlaufen - bei den Europawahlen 2019 erzielte die Partei das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Ihr faktisches Verschwinden hat im rechten bürgerlich-konservativen Spektrum ein großes Vakuum hinterlassen.

Für Macron, der von der Gelbwesten-Krise, einer der längsten Streikbewegungen in der Geschichte Frankreichs (gegen die inzwischen auf Eis gelegte Rentenreform), übergangslos in die Corona-Pandemie geraten ist, ist das Werben um rechte Wähler/innen also einerseits eine Chance, weil die sich nach Sarkozy zurücksehnende konservative Basis der Republikaner eine neue Heimat sucht, und zugleich machtpolitisch notwendig, da Le Pen momentan die stärkste Konkurrentin im Kampf um die Präsidentschaft ist.

Mit dem umgebildeten Kabinett und gemeinsam mit Innenminister Darmanin trieb Macron vor diesem Hintergrund zuletzt einige Gesetzesvorhaben voran, die für scharfe Kritik von links und viel Zustimmung von rechts sorgten. Darunter vor allem das "Gesetz für umfassende Sicherheit", dem in erster Lesung die extreme Rechte im Parlament zustimmte - ein Novum! - und das unter anderem jenes Verbot (Artikel 24) von journalistischen Videoaufnahmen bei Polizeieinsätzen enthält, gegen das im Herbst und Winter vergangenen Jahres mehrfach Hunderttausende demonstrierten. Das Gesetz steht - nach einer Überarbeitung des umstrittenen Artikels - derzeit vor der dritten Lesung und damit der endgültigen Annahme durch das Parlament. In Reaktion auf die jüngsten islamistischen Anschläge in Frankreich brachte die Regierung zudem das schon länger in der Schublade liegende Gesetz zur "Stärkung der republikanischen Prinzipien" ins Parlament ein - in der Diskussion darüber zeigte sich unter anderem Darmanin bereit, Le Pen rechts zu überholen, indem er sie etwa in einer Fernsehdebatte dafür kritisierte, zu "weich" gegenüber Islamisten zu sein.

Wo sich Macron und seine Regierung in den ersten Jahren der Amtszeit vor allem auf "Reformen", die die Wirtschaft betrafen, sowie die Europapolitik konzentriert hatten, setzen er und seine Minister/innen inzwischen ganz auf die sogenannte Innere Sicherheit. Eine Rolle bei dem Identitären-Verbot mag auch gespielt haben, dass Darmanin zuletzt mehrere islamistische Vereine sowie die türkisch-faschistischen Grauen Wölfe ( loups gris) verbieten ließ und nun unter Beweis stellen wollte, dass er die französische extreme Rechte nicht aus den Augen verloren hat.

Für die gesellschaftliche Rechte in Frankeich dürfte das Verbot weit weniger Auswirkungen haben als die Tatsache, dass der einst als liberaler Senkrechtstarter auch außerhalb Frankreichs gefeierte Macron entschlossen scheint, mit Law-and-Order-Themen in den Wahlkampf 2022 zu ziehen. Sicher, für den engen Kreis der etwa 800 Mitglieder der GI werden die Zeiten etwas rauher. Doch die breiter aufgestellte Rechte dürfte sich in ihren Anliegen eher gestärkt sehen. Für sie stehen im nächsten Jahr eine aussichtsreiche Kandidatin und ein aussichtsreicher Kandidat zur Wahl: Le Pen gehört selbst zur Familie der Identitären, und Macron hat sich nicht wenige der Themen und Forderungen zu eigen gemacht, für die die GI all die Jahre, in denen man sie gewähren ließ, eingetreten ist. Auch wenn sie selbst nun vorerst auf öffentlichkeitswirksame Bergwanderungen verzichten muss.

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