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Telefonseelsorge: Wie eine 27-Jährige anderen Muslim*innen aus ihren Krisen helfen will

Foto: © MuTes

Es gab Momente in Samars* Leben, in denen sie eine*n Zuhörer*in gebraucht hätte. Eine Person, die sich die Probleme anhört, über die sie weder mit ihren Eltern noch mit ihren Freund*innen reden kann. Eine Person, die sie nicht verurteilt, die sie nicht kennt, der sie nie begegnen wird.

Aber bei einer Telefonseelsorge anrufen? Nein, auf keinen Fall. Die 27-Jährige muss lachen. „Das hätte ich nie gemacht." Lieber schlucke sie ihre Probleme einfach runter. Umso mehr Respekt hat die Bachelorstudentin vor denen, die sich trauen - und tatsächlich zum Hörer greifen. Die einer wildfremden Person ihre Fehler beichten, vor ihr weinen, von Gewalt, Sucht und Selbstmordgedanken erzählen. Die einer wildfremden Person Einblick in die tiefsten Abgründe ihrer Seele geben.

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Telefonseelsorge: Zwischen Scherzanrufen und Suizidgedanken

Samar hat in unzählige solcher Abgründe geblickt. Denn sie ist eine dieser wildfremden Personen, die man einfach anruft. Seit einem halben Jahr arbeitet die Tochter syrischer Geflüchtete ehrenamtlich in der Muslimische Telefonseelsorge Berlin (MuTeS), dem weltweit einzigen Seelsorgeangebot für Muslime, das rund um die Uhr erreichbar ist.

„Das hört sich irgendwie blöd an, aber mir macht das Spaß", sagt Samar und lächelt. Es ist ein sanftes Lächeln, so wie der ganze Ausdruck auf Samars Gesicht irgendwie sanft ist. Er passt zu ihrer Stimme. Sie hat etwas Unaufgeregtes, etwas Beruhigendes. Die dunkle Kleidung sitzt locker auf dem Körper, das Kopftuch ist fest und ordentlich gebunden. Die aufgeweckten Augen sind dezent geschminkt.

„Wir sind keine Telefon-Hotline für muslimische Fragen"

Samar ist Muslimin - so wie alle 80 Ehrenamtlichen, die von einer Berliner Dachgeschosswohnung aus das Seelsorgetelefon betreuen. Wer Dienst hat, arbeitet alleine, denn es gibt nur eine Leitung.

Vielleicht ist das egoistisch - aber zu wissen, dass die Leute jemanden brauchen und ich ihnen diese Zeit jetzt geben kann, fühlt sich gut an.

Die Zentrale von MuTeS liegt hinter den Wänden eines schicken Gründerzeit-Altbaus, mitten in einem Berliner Szeneviertel. Drei Zimmer, Küche, Bad, blauer Teppichboden. „Schuhe bitte ausziehen", steht auf einem Schild an der Tür, einmal auf Deutsch, einmal auf Arabisch. In jedem Zimmer die gleichen schlichten Möbel: Schreibtisch, Stuhl und in der Ecke ein kleines Einzelbett - für die, die Nachtschicht haben. Die Mitarbeiter*innen sollen sich wohlfühlen, gerne zur Arbeit gehen. Samar tut es: „Wenn ich mal zwei Wochen nicht hier war, merke ich, dass mir etwas fehlt", sagt sie. „Vielleicht ist das egoistisch - aber zu wissen, dass die Leute jemanden brauchen und ich ihnen diese Zeit jetzt geben kann, fühlt sich gut an".

Die meisten Anrufer*innen seien Muslime. „Wir sind aber keine Telefonhotline für muslimische Fragen", sagt Samar. Anrufer*innen mit Fragen zum Koran rate sie gleich, sich an eine Moschee zu wenden.

Trotzdem ist Muslim*in zu sein eine Voraussetzung für alle, die bei der Telefonseelsorge arbeiten wollen. Denn viele Anrufer*innen belasten Probleme, die direkt mit der Religion zusammenhängen. Probleme, über die die meisten Muslim*innen mit Familie und Freund*innen nicht sprechen können. Wenn sie Zweifel an ihrem Glauben haben zum Beispiel. Oder wenn sie Geschlechtsverkehr vor der Ehe hatten und das bereuen. Wegen ihrer Angst, von ihrer Familie für derartige Sünden verurteilt zu werden, nutzen sie die Telefonseelsorge. Von Samar bekommen sie erklärt, dass es „völlig legitim ist, Fehler zu machen". Dass Gott ihnen vergebe und es keinen Grund gebe, sich selbst dafür zu verachten.

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Samar selbst ist in Berlin geboren, in einer westlich-modernen Gesellschaft aufgewachsen. Die 27-Jährige beschreibt sich als unabhängiger, mutiger und selbstbewusster als viele andere muslimische Frauen - und hat deswegen noch lange nicht für alle Probleme Verständnis. „Wenn mir muslimische Frauen erzählen, wie sie manchmal von ihren Ehemännern behandelt werden, macht mich das schon fast wieder wütend", sagt sie. „Was hält sie davon ab, einfach zu gehen?" Doch sobald Samar an dem weißen Schreibtisch sitzt und den Telefonhörer abnimmt, ist sie nicht mehr Samar. Sie ist die Zuhörerin.

„Das ist das schlimmste Gefühl"

Um an diesem Schreibtisch sitzen zu dürfen, musste Samar wie alle Seelsorger*innen eine Ausbildung absolvieren. Über fünf Monate hinweg traf sie sich regelmäßig mit ihren Ausbilder*innen - einem Team aus Psycholog*innen, Therapeut*innen, Trainer*innen und Sozialarbeiter*innen. In rund 80 Stunden hat dieses Team den angehen SeelsorgerInnen beigebracht, wie man Probleme erkennt, Menschen analysiert und Empathie für sie entwickelt. Lernen sollten sie all das direkt am praktischen Beispiel: nämlich an sich selbst. „Man erzählt seine eigene Lebensgeschichte, gräbt Kindheitserinnerungen und verdrängte Erfahrungen aus und redet in der Gruppe darüber", erinnert sich Samar. Die Studentin habe es große Überwindung gekostet, so viel von sich preiszugeben. Doch nur so habe sie sich selbst kennengelernt. Sei mit sich selbst im Reinen und könne jetzt anderen helfen.

Zusätzlich zur Ausbildung gibt es interne Weiterbildungen, in denen die MuTes-Seelsorger*innen für religionsspezifische Fragen sensibilisiert werden. Ein Schwerpunkt sei das Thema Sexualität. In der islamischen Kultur ein absolutes Tabu-Thema. Nicht so bei MuTes: „Man lernt, offen mit dem Thema umzugehen", sagt Samar. Wie alle anderen Seelsorger*innen durfte sie bei den ersten Einsätzen nur in Begleitung eines Supervisors den Hörer abnehmen. Samar war entsprechend nervös, fühlte sich unsicher. Inzwischen ist sie souveräner. Und doch gibt es sie immer wieder - diese Gespräche, die Samar aus der Bahn werfen.

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Die Studentin erinnert sich an ein 13-jähriges Mädchen am anderen Ende der Leitung. Keine Muslimin, sondern eine Christin, die beim kirchlichen Seelsorgetelefon niemanden erreicht hatte. So wie die meisten Nicht-Muslime, die bei Samar anrufen, weil das christliche Sorgentelefon völlig überlastet ist. „Sie wollte sich umbringen, weil sie in der Schule gemobbt wurde", erinnert sich Samar. Wie man mit jemandem spricht, die*der sich das Leben nehmen will - auch das hat die 27-Jährige in der Ausbildung gelernt. „Ich habe nach ihren Beweggründen gefragt, wie sie sich das Ganze vorstellt und ob es nicht etwas gibt, das sie von dem Suizid abhält."

Ob sie das Mädchen aus ihren Gedanken herausholen konnte? Oder ob sie sich tatsächlich umgebracht hat? Samar weiß es nicht, und sie wird es nie wissen. Nur die wenigsten rufen ein zweites Mal an. „Das ist das schlimmste Gefühl. Nicht zu wissen, wie es ausgegangen ist."

Ja, es gibt diese Momente, die Samar runterziehen. Und doch kehrt sie immer wieder zurück, steigt die unzähligen Treppenstufen hinauf zur Dachgeschosswohnung und setzt sich an den weißen Schreibtisch. Weil sie weiß, dass sie gebraucht wird.

*Name von der Redaktion geändert, die Mitarbeiterin möchte anonym bleiben.

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