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Alles ist möglich

Ohne Auswendiglernen und feste Rollen, dafür mit viel Spontanität und ständig wechselnden Charakteren - das ist Improvisationstheater. Zehn Tage lang haben Studierende diese Theaterkunst erprobt, um sie am vergangenen Freitag, 15. September, auf die Bühne des Musischen Zentrums der Ruhr-Universität Bochum (RUB) zu bringen. Dabei galt es auch, Kultur- und Sprachbarrieren zu überwinden, denn zehn der Studierenden kommen aus Krakau in Polen. Na dann: 5, 4, 3, 2, 1, GO!

Zwei junge Frauen stehen auf der Bühne. Eine von beiden fängt an, etwas auf Polnisch zu erzählen, sie gestikuliert mit den Händen. Ihre Partnerin schaut sie unentwegt an, ihr Mund ist zu einem leichten Lächeln verzogen, gleichzeitig steht je- doch Ratlosigkeit in ihren Augen, in denen sich das Scheinwerferlicht spiegelt. Auch den meisten Anwesenden im Publikum geht es ähnlich. Ein paar lachen zwar vereinzelt über das, was sie hören, der Rest jedoch ist vollkommen ahnungslos, worüber die Frau gerade spricht. Plötzlich hört diese auf zu reden und schaut ihre Partnerin erwartungsvoll an. Die öffnet nun den Mund und fängt stockend an, auf Englisch zu sprechen. Es geht um die Französische Revolution. Aber auch um Kartoffelchips.

Viele Zutaten, kein Drehbuch

Der erste Eindruck, dass es sich bei dem Gesehenen um einen polnischen Vortrag handelt, der ins Englische übersetzt wird, täuscht. Denn ebenso wie der Großteil des Publikums, versteht auch die ratlos dreinblickende Darstellerin kein Wort Polnisch. Was haben nun aber Kartoffelchips mit der Französischen Revolution zu tun? Nichts. Nicht direkt jedenfalls - denn wir befinden uns inmitten einer Improvisationsshow. Zutaten für die Szene: eine polnische Schauspielerin, eine deutsche, die kein Polnisch versteht, ein ‚Vortragsthema' (in diesem Fall die Französische Revolution und eben Kartoffelchips) und ein GO: mehr Drehbuch gibt es nicht. Sprich: Beide Schauspielerinnen müssen sich spontan und ohne weitere detaillierte Vorgaben ausdenken worüber sie sprechen.

„Man muss die Angst verlieren auf eine Bühne zu gehen, ohne zu wissen was als nächstes passieren wird", beschreibt Marcel Schäfer die Grundvoraussetzung für die Improvisationskunst. Er ist seit drei Jahren der künstlerische Leiter der Gruppe und selbst Schauspieler und Schauspielpädagoge. Zehn Tage lang hat er den 17 Studierenden in mehreren Workshops beigebracht, was es heißt, auf der Bühne zu improvisieren. Dabei sei es wichtig auf die Partner*innen zu achten, auf deren Körpersprache und Mimik, um entsprechend darauf reagieren zu können. „Improtheater eignet sich besonders um Hemmungen zu verlieren und sich aufeinander einzulassen. Das sind Dinge, die sowohl auf der Bühne als auch grundsätzlich fürs Zusammensein wichtig sind", so Schäfer.

Bevor eine Szene beginnt, braucht der künstlerische Leiter die Hilfe des Publikums - er fragt etwa nach einem Film. „Star Wars!", ruft ein Zuschauer, „Sharknado", ein anderer. Es gibt Gelächter. Eine Zuschauerin sagt: „Wie wär's mit Forrest Gump?". „Ja, das gefällt mir!", erwidert Schäfer. Von den fünf Darsteller*innen auf der Bühne fordert er, den Film in einer Minute nachzuspielen - das heißt, sich auf die wichtigen Szenen besinnen, die ihn ausmachen. Der Krieg in Vietnam, das Ping-Pong-Spielen, das Laufen, die Bank. Keine leichte Aufgabe, zumal vorher nicht angesprochen werden kann, wer welchen Part übernimmt. Es ist ein heilloses Durcheinander, manche rennen im Kreis herum, andere werfen sich auf den Boden, zwischendurch werden Dinge auf Englisch ausgerufen, um sich doch gegenseitig etwas Orientierung zu geben.

Andere Szenen haben hingegen keine Zeitbeschränkung. Zwischendurch heben die Darsteller*innen kleine, bunte, gefaltete Zettel vom Boden auf, lesen die Sätze, die darauf stehen vor, und bauen sie so mit in die Szene ein. Die Zettel wurden vor der Vorstellung an einige Zuschauer*innen aus dem Publikum verteilt, mit der Aufforderung dort Sätze auf Deutsch, Englisch oder Polnisch drauf zuschreiben. Gefällt den Zuschauer*innen eine Performance oder eine Szene ganz besonders gut, werfen sie Rosen auf die Bühne. „Wir leben beim Impro ganz besonders von den Reaktionen des Zuschauers. Wir brauchen Inspirationen und Tanzen oder Theater? Studierende beim Proben ihrer Impro-Show. (Foto: boskop Kulturbüro) Vorgaben", sagt Schäfer über den Einbezug des Publikums ins Theaterspiel, und fügt hinzu: „Die Energie, die im Zuschauerraum ist, überträgt sich auf die Bühne und umgekehrt".

„Du kannst jeder sein"

Seit fünf Jahren findet das Projekt an der RUB statt. Davor wurde traditionelles Theater gespielt. „Irgendwann haben wir festgestellt, dass diese Art von Theater zu viel Druck aufbaut und das nicht optimal für das Gruppengefühl ist", erklärt Karolin Kubiak vom Akademischen Förderungswerk Kulturbüro boskop, die den Austausch zwischen dem Bochumer Studierendenwerk und dem Pendant in Krakau leitet. In diesem Jahr feiert die Kooperation 20-jähriges Jubiläum. Mit „Theater im Gepäck" erhalten jedes Jahr jeweils zehn Studierende aus beiden Ländern die Chance, an dem Austausch teilzunehmen und sowohl in Bochum als auch in Krakau Improvisationstheater zu lernen und zu präsentieren. Doch darüber hinaus geht es vor allem darum, sich über die jeweils andere Kultur auszutauschen und Sprachbarrieren zu überwinden. „Es ist sehr faszinierend wie sich Menschen innerhalb von zehn Tagen miteinander verbinden können", findet auch Andrea, die in diesem Jahr beim Projekt mitgemacht und selbst polnische Eltern hat.

Die Arbeitssprache ist Englisch. „Jeder hat aber die Freiheit, auf der Bühne in der Sprache zu sprechen, mit der man sich wohler fühlt", so Kubiak. So geschieht es in einigen Szenen auch, dass Schauspieler*innen Polnisch miteinander reden und das Publikum bloß anhand der Gestik und Mimik erahnen kann, um was es gerade geht. Im Mittelpunkt stehen die Emotionen. „Auch, wenn Impro Unterhaltung ist, sollen die Teilnehmer versuchen, die Gefühle, die sie darstellen, auch authentisch rüberzubringen", befindet Schäfer. Besonders zentral sind Emotionen in der nächsten Szene, bei der drei Darsteller*innen die gleiche Situation drei Mal mit einer jeweils anderen Laune spielen sollen: erst ernst, dann paranoid, dann sexuell anzüglich. Innerhalb von einigen Sekunden muss sich auf eine neue Situation eingestellt werden. Viel Zeit zum Überlegen bleibt nicht. „Du kannst deine Emotionen verändern, du kannst deinen Charakter ver- ändern. Du kannst jeder sein", erzählt Darstellerin Anita aus Polen, die vor Begeisterung strahlt. Sie habe sich sehr spontan für das Projekt entschieden, weil sie sich für Theater interessiert.

Theatererfahrung müssen Bewerber*innen übrigens nicht haben. Im Grunde sei es sogar besser, wenn man vorher noch nie etwas damit zu tun gehabt hat, erläutert Kubiak von boskop. Für die Schauspieler*innen dieses Jahres geht es nun nach Krakau: Vom 17. bis 27. November findet dort der zweite Teil des Austausches mit anschließender Aufführung statt. Im kommenden Sommersemester gibt es wieder die Möglichkeit dazu, sich für das Projekt zu bewerben. Andrea empfiehlt es jedenfalls weiter: „Weil man innerhalb von zehn Tagen viele verschiedene Menschen kennenlernt und auch wirklich zusammenwächst".

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