Duisburg-Marxloh: „No Go Area", „Sozialer Brennpunkt", „Problemviertel" - mit diesen Betitelungen kenne ich das Stadtviertel im Duisburger Norden aus den Medien. Ich bin relativ neu im Pott, wohne jetzt seit knapp einem halben Jahr in Essen und selbst daran muss ich mich noch etwas gewöhnen. Aber Duisburg-Marxloh? Das war jetzt nicht unbedingt ein Duisburger Stadtteil, durch den ich an einem entspannten, sonnigen Sonntagnachmittag spazieren gehen würde. Und doch ist es heute mein Ziel. Am Duisburger Hauptbahnhof angelangt, ist es noch ein Stück bis in den Norden der Stadt. Über 25 Minuten, über die Ruhr, am Hafen und den Krupp-Werken vorbei, gelange ich mit der Straßenbahnlinie 901 schließlich auf die Kaiser-Wilhelm-Straße. Ein kleiner Platz am Rande der Straße ist mit kurdischen Symbolen, Figuren und Teppichen geschmückt. Der Geruch von Lammfleisch und Fladenbrot liegt in der Luft. Es tummeln sich viele Menschen, auch viele Kinder auf und um den Platz herum. Einige sind bunt gekleidet, tragen glitzernde Kleider, Kopftücher oder Hosen. Viele haben ein rot-gelb-grünes Halstuch um Hals oder Kopf gebunden. Die Farben der kurdischen Flagge dominieren den Platz.
Ich schaue mich um. Ein junger Mann hat eine orangene Weste übergezogen, auf der ihn ein Schriftzug als Ordner des Kurdischen Kulturfestivals ausweist. Ich spreche ihn auf Deutsch an, sage, dass ich von einer Studierendenzeitung komme und gerne mit einem der Organisator*innen sprechen wolle. Er scheint mich nicht zu verstehen und bringt mich zu einem weiteren, älteren Mann. Ich wiederhole meine Frage. Er führt mich zu Bawer Beri. Der 25-jährige Deutsch-Kurde ist Mitorganisator der Kurdischen Kulturtage in Duisburg. Denn auch das ist der Pott, auch das ist Duisburg und besonders Marxloh: Geschätzte 64 Prozent der Anwohner*innen haben hier einen Migrationshintergrund, hauptsächlich aus Südosteuropa. Und auch viele Kurd*innen haben sich hier niedergelassen. Viele von ihnen feiern heute ein Fest. Vier Tage lang, vom 28. April bis zum 1. Mai, dauert die ausgelassene Stimmung an.
Zum zweiten Mal nach 2016 veranstaltete das Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum Deutschland (kurz: Nav-Dem) in Duisburg dieses Fest. Der Verein Nav-Dem hat sich auf soziale und kulturelle Aktivitäten in Duisburg spezialisiert. Ein Highlight ist das Kulturfestival: „Wir haben es dieses Jahr noch vielfältiger als letztes Mal. Unser Ziel ist, dass es sich von Jahr zu Jahr vergrößert und vielfältiger wird", erklärt Beri. Hinter ihm, am Schreibtisch, hängt ein großes Portrait des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Die PKK, die seit 2002 von der Europäischen Union als terroristische Organisation bezeichnet wird, gilt, laut Verfassungsschutz, als Basis von Nav-Dem.
An diesem Sonntag geht es aber weniger um Politik. Es geht vielmehr darum, wie auch schon an den Tagen zuvor, die kurdische Kultur zu präsentieren. „Das Highlight am Samstag war sicherlich die kurdische Hochzeits-Prozession", sagt Mitorganisator Beri. „Dabei holt der Mann mit seiner Familie die Braut mit einem Pferd ab. Vorher muss er der Braut drei Äpfel auf den Kopf werfen". Er lacht. „Das klingt jetzt etwas brutal." Die Bedeutung dahinter sei aber etwas Schönes: „Die drei Äpfel stehen für Glück in der Ehe und Glück für die Zukunft. Sie symbolisieren Freude und Liebe", so der 25-Jährige. Mit einigen hundert Menschen seien sie am Samstag vom Amtsgericht in Hamborn bis zum Festplatz in Marxloh gelaufen. Das Pferd, sowie das Brautpaar selbst waren dabei feierlich geschmückt und dekoriert. Es wurde gefeiert und getanzt.
Bunt, kunstvoll und durchaus laut geht es auch an diesem Nachmittag zu. Die Stimmung ist gut, die Sonne scheint und die kurdischen Musikklänge regen zum Tanzen an. Einige finden sich auf dem Platz zusammen, um, in einer Reihe nebeneinander aufgestellt, beieinander eingehakt, zu tanzen. Immer mehr Tanzbegeisterte finden sich zusammen, bis irgendwann ein ganzer Kreis entstanden ist. Das einzige, was die Stimmung für mich trübt, ist die Tatsache, dass ich kein Wort von der Moderation verstehe: alles auf Kurdisch. Einige Männer halten zwei Finger ausgestreckt in die Höhe: das Victory-Zeichen. Erst später finde ich heraus, dass es teilweise auch zur Identifizierung mit der PKK verwendet wird.
Praktizierte Kultur als Identitätsfindung
Die kurdische Gemeinde in Duisburg ist groß, glaubt Bawer Beri. Es sei jedoch schwierig, eine genaue Zahl festzumachen, weil viele nicht direkt in der Community bekannt seien. „Es sind so viele Leute aus Nordsyrien und Kurdistan in den letzten fünf Jahren hergekommen, da kennen wir viele noch gar nicht", erklärt der Deutsch-Kurde. Im Verein selbst seien rund 500 Leute aktiv oder passiv beteiligt. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, insbesondere das Ergebnis des Referendums (akduell berichtete) stößt in der Community auf Ablehnung. „Das Wahlergebnis hat uns alle hier sehr erschüttert", sagt Beri. „Die Gesellschaft in der Türkei hat sich damit selbst ein Bein gestellt und geht den Abgrund herunter", resümiert er. In der Türkei war er selbst noch nie.
Trotzdem oder gerade deswegen sei es ihm aber wichtig, sich seine kurdischen Wurzeln zu bewahren. Er sieht es auch als Pflicht seinen Vorfahren gegenüber: „Ich kenne meine Kultur oder die Kultur meiner Vorfahren nur aus Erzählungen. Aber ich bin da so sehr verbunden, weil ich es wichtig finde, dass ich meine Vorfahren, die da alles haben stehen und liegen lassen, Respekt zolle, indem ich meine eigene Identität nicht vergesse." Auch deswegen engagiere er sich seit nun sechs Jahren im Verein in der Kulturvermittlung. „Mir ist es wichtig, die Kultur am Leben zu erhalten, weil ich will, dass die nächsten Generationen die Kultur auch kennenlernen", so Beri.
Durch das Kulturfestival soll jedoch nicht nur der Zusammenhalt innerhalb der kurdischen Gemeinschaft gestärkt werden, sondern auch mit der nicht-kurdischen Gesellschaft, das ist Beri wichtig zu betonen: „Es geht darum, dass wir einen Teil unserer Kultur repräsentieren, sodass auch Nicht-Kurden unsere Kultur kennenlernen und Vorurteile und Ängste aus der Welt geschaffen werden können".
So bunt der Tag begonnen hat, so endet er dann auch: nämlich mit einer Vorstellung klassischer kurdischer Trachten. Eine Art Modenschau. Die „Models" laufen im Kreis um den Platz herum und präsentieren ihre bunten, farbigen Kleider. Anschließend erläutern zwei Moderatoren die Funktion und Bedeutung einzelner Kleidungsstücke und deren Kombination - leider hauptsächlich auf Kurdisch. Das nächste Mal nehme ich wohl besser ein Deutsch-Kurdisches Wörterbuch mit.