Zeit Online | 13.07.2015
Hunderte von Flüchtlingen campen in Paris unter unwürdigen Umständen. Die französische Hauptstadt ist überfordert, doch ganz normale Pariser helfen.
+++
Die blonde Frau im Bikini hält sich an einem Plastikdelfin fest. Ihre Freundin steckt im Schwimmreifen und kichert. Ahmed M. schaut den Frauen zu, wie sie in dem Mini-Pool auf dem Restaurant-Schiff Playtime ihren Spaß haben. Er sieht sie von seinem Zelt am Kai an der Seine. 30 Meter ist das vertäute Schiff entfernt vom illegalen provisorischen Flüchtlingscamp im Osten von Paris, in dem Ahmed lebt. "Das da ist eine andere Welt", sagt er.
Jogger traben an den sogenannten Docks vorbei, wo aus früheren Lagerhallen die schicke Cité de la Mode et du Design entstanden ist. Pariser studieren hier Mode und amüsieren sich. Flanierende Touristen fotografieren die eng platzierten grünen und blauen Zelte der Flüchtlinge. Ahmeds Zelt steht auf zwei roten Holzpaletten am Kai, davor ein Kehrbesen und eine Plastikwanne, in der er T-Shirts einweicht. Er zieht die Zeltplane seines kleinen, von Hilfswerken gekauften Zeltes beiseite: drinnen eine Matratze, zwei Schlafsäcke - er teilt das Zelt mit einem anderen Flüchtling.
Eine Freitreppe führt mitten in seinem Camp hinauf auf die erste Etage des Gebäudes - in einen Szene-Club namens Wanderlust. Laute Pop-Musik dröhnt aus dem Getränkestand unter freiem Himmel. "Die da oben sind schon okay", sagt Ahmed, "aber leider läuft die Musik oft bis morgens um sechs Uhr, dann liege ich die Nacht wach." Nicht nur wegen der Lautstärke. Gegen vier Uhr sind manche Clubgäste ziemlich betrunken und vergessen, dass Flüchtlinge auch Menschen sind: "Dann werfen sie Kippen und Bierflaschen auf unsere Zelte." Oder sie spucken hinunter.
Ein Notlager inmitten einer Partymeile. Fast 20 Monate gibt es dieses Flüchtlingscamp schon. Ahmed ist 28 und lebt seit drei Monaten hier. Er floh aus dem Sudan. Er sagt nur: " Darfur". Ein Wort, das für ihn nicht weiter erklärt werden muss. Eine Region mit Bürgerkrieg, Rebellen, Milizen, Gewalt, Tod, Vergewaltigung, Vertreibung. Ahmed hat eine Wunde an der Schläfe, eine am Kinn, sie sind gut verheilt. "Kämpfe", sagt er. Soldaten attackierten seine Familie, "Mama, Papa, zwei Brüder, drei Schwestern - sie sind alle noch dort." Er floh.
Ahmeds monatelanger Weg nach Europa gleicht dem vieler Flüchtlinge, die derzeit in Paris auf der Straße leben: erst nach Libyen. 1.500 Dollar kostete ihn der Platz auf dem Schleuserschiff übers Mittelmeer. Dann Italien. Mal Bus, mal Bahn, mal stundenlange Fußmärsche. Immer die Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Dann Paris. Ahmed fuhr weiter über Straßburg nach Hannover. Aber sein Asylantrag wurde vor einem Jahr abgelehnt, also fuhr er zurück nach Paris. Jetzt versucht er, hier Papiere zu bekommen.
Viele der 140 Flüchtlinge am Quai d'Austerlitz sind von der Reise erschöpft. Baschir aus dem Tschad erzählt von der Überfahrt übers Mittelmeer, wo er sich auf den überfüllten Booten tagelang kaum rühren konnte. Daniel aus Eritrea vom Kentern seines Bootes, 41 seiner Mitflüchtlinge starben. Jetzt hoffen diese Männer in Paris auf Hilfe und Schutz in Europa. Und warten unterm Wanderlust.
Paris, die Stadt der Flüchtlinge. Die Metropole zieht sie an, und es werden immer mehr. Über 500 lebten derzeit unter freiem Himmel, schätzt das Rathaus. Für einen Teil von ihnen ist Paris nur eine Durchgangsstation. Sie wollen weiter nach Calais, um sich dort an Laster klammern, die durch den Tunnel nach Großbritannien fahren. Andere wollen nach Schweden, in die Niederlande und nach Deutschland. Paris ist mit der Situation überfordert.
Für Aufsehen sorgte im Juni die Räumung des Flüchtlingscamps unter der Hochbahn-Station La Chapelle im Norden der Stadt. Seit dem Sommer 2014 lebten dort 380 Flüchtlinge - darunter Frauen und Kinder - zwischen Ratten, Uringestank und dem ständigen Rattern der Métro. Schließlich schickten die Behörden Busse und Polizisten, um das Camp aufzulösen. Danach wurde ein Teil der Flüchtlinge von Stadt und Staat gut betreut. Andere jedoch irrten kurz danach wieder durch die Metropole.
Als die Polizei wenig später ein Flüchtlingslager bei der Jugendherberge in der Pajol-Halle im Norden der Stadt auflöste, kam es zu Gewalt. Sympathisanten der Flüchtlinge bildeten eine Schutzkette um die Flüchtlinge, manche attackierten die Polizisten, die Beamten setzten Tränengas ein. Linke und Hilfsvereine warfen der Regierung Brutalität und Planlosigkeit vor. Die Behörden wiederum sprachen von Demagogie und Instrumentalisierung der Migranten. Die grüne Ex-Ministerin Cécile Duflot bezeichnete die derzeitige Flüchtlingspolitik gar als "moralisches Waterloo".
Ein klappriger weißer VW-Bus hält am Kai. Médecins Sans Frontières,
steht darauf, Ärzte ohne Grenzen. Pierre Blanc steigt aus, geht auf die
Flüchtlinge zu und sagt bonjour, wer krank sei, der könne zum
Bus kommen. Jeden Tag macht der Bus hier Station. 20 bis 35 Flüchtlinge
betreut der Ärztewagen durchschnittlich an einem Nachmittag an zwei
Camps in Paris. "Viele haben Stress-Krankheiten von ihrer langen Reise,
vom Leben auf der Straße; Magen- und Atemprobleme", sagt Blanc. "Viele
leiden unter psychischen Problemen und Erschöpfungszuständen, einige
unter Hautkrankheiten wie Krätze." Es bildet sich eine kleine Schlange
vor der rollenden Praxis.
Für die Flüchtlingsorganisation France Terre d'Asile sind diese Lager
unter freiem Himmel in Frankreichs Hauptstadt menschenunwürdig. Die
Flüchtlinge mit positivem Asylbescheid hätten Recht auf eine Unterkunft,
andere, die den sehr komplexen Asylantrag stellen wollten, müssten dies
in würdigen Umständen tun können und bräuchten Begleitung. Das
französische Asylbewerbungssystem hat aber enorme Mängel:
durchschnittlich dauert es vier bis sechs Monate, bis ein Flüchtling
überhaupt einen Termin bei der Präfektur bekommt – mindestens so lange
lebt er auf der Straße. Asylverfahren in Frankreich beanspruchen zu viel
Zeit, im Durchschnitt dauert es 19 Monate bis zu einer Entscheidung.
Seit Jahren werden sie hin und hergeschickt, schlecht behandelt,
verscheucht, kritisiert France Terre d'Asile.
In Frankreich fehlt es auch an Unterkünften für die Flüchtlinge. Bisher gibt es 25.000 Betten in Aufnahmelagern, 20.000 Plätze in Notunterkünften. Doch für mindestens 25.000 Menschen fehlt es an Schlafplätzen. Als Reaktion auf die sich zuspitzende Lage und die zahlreichen wilden Lager in Paris kündigte Innenminister Bernard Cazeneuve vor Kurzem an, dass fast 10.000 neue Unterkünfte für Flüchtlinge und Asylbewerber geschaffen werden sollen.
Viele Pariser wollen nicht mehr wegsehen. So wie Olivier Mesnil. Er
hat mit anderen Anwohnern ein Hilfskomitee
gegründet. "Ich konnte einfach nicht zusehen, wie die Flüchtlinge auf
dem Gehsteig vor meinem Haus schlafen und ich gleichzeitig selbst im
warmen, weichen Bett liege", sagt er. Manchmal nehmen er und seine
Helfer Flüchtlinge mit zu sich nach Hause, damit sie duschen können. Bis
vor Kurzem hat er in der Halle Pajol im Norden von Paris Flüchtlinge
mit Lebensmitteln versorgt, hier hatte sich ein neues Lager gebildet.
Inzwischen wurde es friedlich geräumt.
Der 39-Jährige schaut regelmäßig in den kleinen Parks an der
Metrostation La Chapelle vorbei, wo viele Flüchtlinge übernachten und
Kinderrutschen als Regenschutz und Stauraum für ihr weniges Hab und Gut
nutzen. Er warnt Flüchtlinge vor Dealern und aggressiven
Crack-Abhängigen. Touristen auf dem Weg zu Montmartre bekommen von der
Metrolinie 2 aus einen Blick auf dieses Flüchtlingsparis. Mesnil hat den
Eindruck, dass die Behörden die Situation eskalieren lassen, damit die
Flüchtlinge von sich aus verschwinden. "Das sind doch keine Hunde, sie
haben ein Recht auf Asyl", sagt Mesnil. Sie hätten ihr Land nicht aus
einer Laune verlassen, sondern weil ihr Leben dort bedroht sei.
Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagte, sie sei stolz auf die Pariser und die Vereine, die eine beachtliche Solidarität zeigten. Jede Nacht finanziere die Stadt Paris Notunterkünfte für 30.000 Obdachlose und Flüchtlinge. Sie drängt aber darauf, dass sie auch verstärkt auf andere Départements verteilt werden. Hidalgo will, dass Paris Flüchtlinge besser empfängt und hat zwei Vorschläge gemacht: entweder ein Transit-Zentrum mit Unterkunftsmöglichkeiten für 250 bis 300 Flüchtlinge, die Asyl beantragen wollen. Oder ein Informationsbüro, wo die Flüchtlinge von den Vereinen eine erste Beratung bekommen und dann auf bestehende Unterkünfte verteilt werden. "Ich will niemanden mehr draußen auf den Pariser Gehsteigen in absolut unwürdigen Umständen schlafen sehen."
Das Thema spaltet das Land. Nach einer Umfrage der Zeitung Libération ist die Hälfte der Franzosen der Meinung, Frankreich solle weniger Flüchtlinge aufnehmen. Der rechtextreme Front National nutzt das Flüchtlingsthema für sich. Auch die konservative Opposition schürt Ängste: mehr Hilfe und weitere Unterkünfte würden nur noch mehr Flüchtlinge anziehen. Der Name Sangatte macht auch in Paris die Runde: So heißt der kleine Ort direkt am Ärmelkanal in der Nähe des Eurotunnels, wo 1999 das Rote Kreuz ein Notlager für 200 Flüchtlinge errichtete, die nach Großbritannien wollten. Aus dem Provisorium wuchs ein Lager mit 1.600 Menschen. Innenminister Sarkozy ließ es 2002 auflösen. Eine Lösung war das nicht: Es entstanden einfach anderswo neue Sangattes.
Am Quai d’Austerlitz ist Aperitif-Zeit – in der ersten Etage. Im Wanderlust trinken die Gäste gekühlten Rosé und 12-Euro-Cocktails. Mitarbeiter stellen Liegestühle für das Freiluftkino auf. Aus den benachbarten Büroglastürmen des Neubauviertels im Osten kommen die Angestellten und genießen von der Club-Terrasse den Blick auf die Seine, die vorbeifahrenden Frachtkähne und das mächtige Finanzministerium Bercy auf der anderen Uferseite. Victor Chevalier sitzt mit seinem Kumpel in der Sonne und trinkt sein Corona-Bier. Er kann die Flüchtlinge unter sich beobachten. Die störten ihn nicht, sagt der 25-Jährige. "In Paris ist man dieses nebeneinander sowieso gewohnt", es gebe ja auch viele Obdachlose. Chevalier wird nachdenklich. "Ich oben, wo alles okay ist – die unten, im Elend", sagt er. Toll sei es aber, dass die da unten gerade Französisch lernten. Tatsächlich stehen zwei Frauen vor Tafeln, auf dem Boden sitzen Flüchtlinge mit Schreibheften und hören ihnen aufmerksam zu. Unter ihnen ist auch Ahmed. Auf der Tafel stehen die Sätze "Ich habe Hunger, ich habe Durst".
Rétablir l'original