chrismon: Was lernen Kinder in Kamerun über Europa?
Veye Tatah: Manche Kinder wissen alles über die Tower Bridge in London, kennen aber die Brücke im Nachbardorf nicht. Das Bildungssystem stammt aus der Kolonialzeit und müsste grundlegend reformiert werden. Es richtet den Blick nach Europa, nach Amerika, es müsste sich aber viel mehr an den Bedürfnissen vor Ort orientieren. Es nützt nichts, dass die jungen Menschen viel über europäische Geschichte wissen, aber später kein Unternehmen gründen können.
Kann Europa beim Unterrichtsstoff helfen?
Tatah: Das müssen die Afrikaner selbst machen. Wir können Partnerschaften mit Europa eingehen, aber die Afrikaner müssen erst mal klären, was sie brauchen. Europa kann nicht von vornherein sagen: Wir wollen das und das bei euch machen. Die Deutschen bauen ja auch erst eine Industrie auf und überlegen dann, mit wem sie kooperieren.
Gerd Müller: Aus der eigenen Kultur heraus die Bildungsinhalte zu entwickeln, halte ich für zentral. Ich erinnere mich an einen Jungen in Mauretanien. Er kam mit seinem Eselskarren und einem Wasserfass an, aber am Ohr hatte er ein Smartphone. An welchen Werten orientiert sich seine Generation? An den alten Werten der Familie, der Kulturen? Oder an dem, was über das Internet in die Köpfe gesendet wird? Wer entscheidet? Facebook? Amazon? Coca-Cola?
Tatah: Die jungen Leute orientieren sich an ihren Eltern und an Social Media. Sie wollen dieselben Jeans anziehen wie die Europäer und Amerikaner. Aber in der Schule könnte man schon kleine Kinder mit anderen Werten wie Ehrlichkeit, Fairness und Gerechtigkeit bestärken, so dass sie später differenzieren können. Außerdem müssen wir die Leute sensibilisieren.
Sensibilisieren wofür?
Tatah: Zum Beispiel für die Kolonialzeit. Die Afrikaner hatten keine Zeit, diese Phase ihrer Geschichte aufzuarbeiten.
Müller: Wie wird das in der Schule behandelt?
Tatah: Eigentlich sehr wenig, wie Umfragen in afrikanischen Ländern ergeben haben. Da wird ein bisschen über Apartheid gesprochen, aber so gut wie gar nicht über Auswirkungen von Kolonialismus und Dekolonisation. Das ist ein Problem, denn der Kolonialismus und die Sklaverei haben nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch mentalen Schaden hinterlassen. Bei vielen Menschen ist ein Minderwertigkeitskomplex entstanden, und den geben sie an ihre Kinder weiter. Sie werten alles bei ihnen zu Hause ab und bewundern alles, was von außen kommt. So kann es nicht weitergehen. Nur wenn jemand seine Heimat liebt, lässt er nicht zu, dass sie ausgebeutet wird.
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