Wann haben Sie Ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs gemacht? Wenn die Antwort „zum Führerschein“ lautet, sind Sie in guter Gesellschaft. Das Thema ist für die meisten Deutschen ein lästiges. Doch viele Menschen arbeiten daran, dass sich das ändert.
von Merle Bornemann 23. September 2018, 11:19 Uhr
Auweia!" Lasse, fünf Jahre, ist selbst ganz geschockt beim Anblick des Memory-Kärtchens mit einem Fisch, der Maul und Augen weit aufgerissen hat. Wie dieser Fisch sich fühlt? „Erschrocken", ruft seine Sitznachbarin Celine. „Der hat Angst", meint Lasse. Wütend, fröhlich, nervös, traurig, stolz - die Kinder in der Kita „Nordlicht" der Johanniter in Schwarzenbek haben ein großes Wort-Repertoire an Gefühlen parat, die sie den verschiedenen Fischen auf den Kärtchen zuordnen können.
Und sie wissen auch, was zu tun ist, wenn jemand eben geschockt oder traurig ist. Dann wird getröstet, bei Verletzungen ein Kühlpack geholt und ein Verband angelegt, im äußersten Fall sogar der Rettungsdienst alarmiert. Wie das geht? Livia kramt ein Spielzeug-Telefon aus einer Kiste und dann schallt es im Chor: „Eiiiins, eiiiiins, zwei!" Dabei wird zuerst ein Daumen in die Luft gestreckt, dann der zweite, dann beide nebeneinander gehalten. Mit dieser kleinen Performance vergisst sicher keiner die Nummer, die Leben rettet.
Es sind nicht irgendwelche Kinder, die an diesem Septembermorgen im Kreis um eine bunte Matte herum Platz genommen haben - es sind die „Blaulichtzwerge", ein Projekt der Hilfsorganisation Johanniter im Raum Lübeck zur Ausbildung der Ersthelfer von morgen. Fünf- bis sechsjährigen Kita-Kindern werden in kleinen Häppchen und spielerisch aufbereitet die Grundlagen der Ersten Hilfe sowie eine Menge Sozialkompetenz vermittelt. „Anhand des Gesichtsausdrucks zu erkennen, wie es jemandem geht, ist die Grundlage, die wir mit den Kindern mit den Fisch-Memory-Kärtchen üben", erklärt Pädagogin Marion Holborn. „Denn Empathie ist der Schlüssel."
Während die „Blaulichtzwerge" es kaum erwarten können, bis ihre nächste Übungsstunde losgeht, sieht es bei ihren vermeintlichen großen Vorbildern ganz anders aus. Erwachsene drücken sich gern vor Erste-Hilfe-Kursen. Beinahe jeder Achte in Deutschland hat noch nie an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen, wie eine repräsentative Umfrage des Patientenmagazins „HausArzt" belegt. Von den Frauen habe sogar jede Siebte noch keinen Kurs absolviert, von den Männern jeder Zehnte. Bei mehr als der Hälfte der Frauen und Männer in Deutschland (54,1 Prozent) liegt der Kurs schon mindestens zehn Jahre zurück. Das Kuriose: Über die Notwendigkeit von Erste-Hilfe-Kursen herrscht laut der Befragung große Einigkeit. Neun von zehn Deutschen (91,2 Prozent) sind demnach der Meinung, dass es für jeden Bürger verpflichtend sein sollte, mindestens einmal im Leben an einem solchen Kurs teilzunehmen.
Dass den Worten keine Taten folgen, lässt sich leider auch an den Sterbezahlen in Deutschland ablesen: Jährlich kommen bis zu 100.000 Menschen durch den plötzlichen Herztod ums Leben. Nur zehn Prozent der Betroffenen überleben. Viele mehr könnten gerettet werden, wenn mehr Menschen die Wiederbelebung beherrschen würden. Laienreanimation heißt das im Fachjargon. Die Laienreanimationsquote besagt, in wie vielen Fällen bereits mit Herzmassage und Beatmung begonnen wurde, bevor der Rettungsdienst eintrifft. Deutschland liegt bei 40 Prozent und damit international im hinteren Mittelfeld, weit abgeschlagen hinter Skandinaven und den Ostblock-Staaten.
Warum sind die Deutschen solche Erste-Hilfe-Muffel? Obwohl unterlassene Hilfeleistung sogar strafbar ist? Kaum jemand kann diese Frage so gut beantworten wie Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin des UKSH in Kiel. Der 46-Jährige hat die bundesweite Kampagne der Laienreanimation „Ein Leben retten" mit begründet, entwickelte das „Deutsche Reanimationsregister" und hat für seinen wissenschaftlichen Einsatz bereits internationale Auszeichnungen erhalten.
„In Deutschland haben wir eines der besten Rettungssysteme der Welt, und viele Menschen denken: Super, ich ruf' da an, dann kommen die - dann kommt das beste Rettungssystem der Welt. Da kann ich ja eigentlich nur alles kaputt machen, bis die Profis da sind. Viele Menschen wissen nicht, dass es auf ihre Maßnahme ankommt, gerade wenn der Kreislauf still steht. Und dass sie die Chance haben, etwas zu tun. Dieses Wissensdefizit aufzuheben ist ein wichtiger Schritt", sagt Gräsner. Er kann schon Erfolge vermelden. So habe die Quote vor sieben Jahren noch bei schlappen 17 Prozent gelegen - binnen der letzten fünf Jahre habe sich die Zahl also mehr als verdoppelt.
Dazu haben verschiedene Bausteine beigetragen: Rettungsleitstellen weisen Ersthelfer am Telefon an, Erste-Hilfe-Kurse wurden verkürzt und modernisiert, das Thema fasst immer mehr in Schulen Fuß und somit in der Gesellschaft insgesamt. Die riesige Info-Kampagne „Ein Leben retten - 100 pro Reanimation" mit vielen öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Fußgängerzonen, Kursen in Schulen und Betrieben trägt Früchte. „Die Erste Hilfe ist mittlerweile auch ein großes politisches Thema", sagt Jan-Thorsten Gräsner.
Die Berührungsängste sind dort auch deshalb geringer, weil Erste Hilfe von Kindesbeinen an gelernt und das Wissen regelmäßig aufgefrischt wird - von der Kita über die Grundschulen, die weiterführenden Schulen, die Unis bis hin zu den Betrieben. In Unternehmen gibt es auch in Deutschland ganz klare Regelungen, die der Dachverband der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen festlegt. Je nach Art und Größe des Betriebes müssen fünf bis zehn Prozent der Belegschaft ausgebildete Ersthelfer sein und ihr Wissen alle zwei Jahre auffrischen.
Große Hoffnung auf den BlaulichtzwergenDoch vor Führerschein und Arbeitsleben klafft ein großes Loch. Auf den Schwarzenbeker Blaulichtzwergen ruht deshalb große Hoffnung. Sie sind ein Beispiel von vielen Projekten im Land, die das Ziel eint, die Erste Hilfe so früh wie möglich zu einer Kompetenz zu machen, die einfach dazugehört und auf die man stolz sein kann. Wenn die Nachwuchs-Sanitäter ihre Ausbildung durchlaufen haben, wartet eine Prüfung auf sie. Ist diese gemeistert, bekommen sie eine neongelbe Weste sowie ein kleines Verbandpaket und sind fortan qualifiziert, Dienste in ihrer Kita zu übernehmen. Oft muss Marion Holborn Schichten doppelt besetzen, weil sonst Tränen fließen.
Die Handgriffe beim Verbinden sitzen bei den Lütten, die stabile Seitenlage kriegen sie im Nu hin. „Kaktus, Kuscheln, Knie", so der Merksatz. Erst die Arme in Kaktus-Form positionieren, dann die Handinnenflächen zusammenbringen, schließlich am Knie auf die Seite drehen. Fertig. Kann doch jedes Kind.
Doch längst nicht in jeder Kita in Schleswig-Holstein lernen schon die Kleinsten Erste Hilfe. Auch an den Schulen sind es bislang einzelne Standorte, die ein festes System haben. Jan-Thorsten Gräsner würde Erste Hilfe in Schleswig-Holstein am liebsten als Schulfach etablieren - wie es in Mecklenburg-Vorpommern als Vorreiter in Deutschland bereits geschehen sei. Auch Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen arbeiten daran. Zwischen Flensburg und Pinneberg ist das Thema noch nicht in den Lehrplänen verankert, so das Bildungsministerium. Trotzdem sei es Thema an den Schulen, zum Beispiel bei Ganztagsangeboten oder in Form freiwilliger Schüler-Sanitäter, erklärt Sprecherin Beate Hinse.
Das von Gräsner initiierte UKSH-Projekt „Schüler retten Leben" könnte die Blaupause für ein landesweites Konzept sein. Dabei stellen 15 Projektschulen jährlich einmal für die 7. Klassen einen Erste-Hilfe-Kurs auf die Beine, unterstützt von Hilfsorganisationen im Land. „Ziel ist, das fest ins Schulcurriculum zu kriegen, damit alle Schulen in Schleswig-Holstein dabei sind", sagt Koordinatorin Saskia Greiner. Da sei nun die Politik gefragt. „Einzelne Highlight-Aktion reichen nicht aus. Die Nachhaltigkeit liegt uns am Herzen. Dafür muss man dann mal zwei, drei Jahre mit den Ministerien um die Finanzierung ringen", ergänzt Gräsner.
Der finanzielle Aufwand ist nicht unerheblich. Selbst wenn Hilfsorganisationen Personal stellen, bildet das Schulungsmaterial einen enormen Kostenpunkt. Zum Beispiel kostet eine Einmal-Puppe zum Üben der Reanimation rund 30 Euro, bei wiederverwendbaren Modellen kommen teure Reingungskosten hinzu. „Wir brauchen aber modernes Schulungsmaterial, damit es funktioniert", so der Kieler Mediziner.
Mit dem Bild der Plastikpuppen und ihrem ganz speziellen Geruch mit einem Hauch Desinfektionsmittel verbinden die meisten Menschen Erste-Hilfe-Kurse. Ganz klar ist die Reanimation ein wichtiger Bestandteil. Doch Erste Hilfe ist mehr als Reanimation. Anhalten, stehen bleiben, hingehen, sich kümmern, die 112 alarmieren, Wunden versorgen, Trost spenden. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, findet längst nicht immer statt. Nicht selten wird zuerst das Smartphone gezückt und gefilmt, bevor der Rettungsdienst alarmiert oder den Verletzten geholfen wird.
Die „Blaulichtzwerge" würden über solches Verhalten den Kopf schütteln. Im Trösten sind sie Experten, und ein Pflaster schnippeln sie ratzfatz passend zurecht. Die Scheren klappern nur so, als sie Fingerkuppenverbände fertigen. Zum Schluss wird noch eine fiktive Wunde am Unterarm versorgt. Jeder weiß genau, was er braucht: Kompresse und Mullbinde. Dann wird gewickelt, was das Zeug hält. „Erinnert ihr euch noch - wie muss die Kompresse sein?", fragt die Erzieherin. „Kuschelig!", platzt es aus Lulu, fünf Jahre, zwei lange schwarze Zöpfe, heraus. Klar, das kann nie schaden. Aber sauber, also steril, sei auch wichtig, ergänzt Marion Holborn.
Der plötzliche Herztod ist mit schätzungsweise 80.000 bis 100.000 Fällen pro Jahr eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Jede Minute zählt: Pro Minute, die bis zum Beginn der Reanimation verstreicht, verringert sich die Überlebenswahrscheinlichkeit des Betroffenen um etwa zehn Prozent. Wenn nach einem Herzstillstand nicht innerhalb von fünf Minuten einfache Maßnahmen (vor allem die Herzdruckmassage) durchgeführt werden, dann ist ein Überleben unwahrscheinlich. Der Rettungsdienst braucht länger: Ein Krankenwagen muss laut gesetzlicher Hilfsfrist binnen zwölf Minuten eintreffen. In Schleswig-Holstein dauert es aber oft länger. Wird nach einem plötzlichen Herzstillstand sofort eine Herzdruckmassage durchgeführt, kann in bis zu 50 Prozent der Fälle eine Rückkehr des Spontankreislaufs erreicht werden, d.h. die Überlebensrate verdoppelt sich. Deutschland hat Nachholbedarf: Eine aktuelle Auswertung des Deutschen Reanimationsregisters der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) zeigt: In Deutschland beginnen in nur 40 Prozent der Fälle Laien vor Eintreffen des Rettungsdienstes mit Wiederbelebungsmaßnahmen. In den meisten europäischen Ländern liegt diese Rate deutlich höher. In Schweden und Norwegen machen 80 Prozent der Bevölkerung im Notfall eine Herzdruckmassage. Am Arbeitsplatz sind die Deutschen eher bereit einzugreifen (34 Prozent) als im häuslichen Umfeld (12 Prozent).
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