Ein Mann sitzt in einem Café. Neben ihm liegt ein Buch auf der Bank: Franz Kafkas Die Verwandlung. Die Geschichte von Gregor Samsa, der eines Morgens in seinem Bett im Körper eines Käfers erwacht. Noch vor einem Jahr wäre diese Szene in Mossul undenkbar gewesen. Für die ganzen letzten 15 Jahre galt hier: Wer Kafka liest, riskiert sein Leben.
Für viele Intellektuelle im irakischen Mossul muss sich nach dem 5. Juni 2014 das Leben ähnlich angefühlt haben wie jenes morgendliche Erwachen Gregor Samsas. Als Mohammed Dschassem an dem Tag hörte, dass eine Ausgangssperre verhängt wurde, dachte er sich zunächst nichts weiter. Halt mal wieder eine Autobombe explodiert oder ein Selbstmordattentäter, der sich in die Luft gesprengt hatte. Wie immer in solchen Fällen schloss Dschassem, der Direktor der Zentralbibliothek von Mossul, früher ab und ging nach Hause. Es war Donnerstag. Er dachte, er würde nach dem Wochenende ganz normal zur Arbeit zurückkehren.
Zwei Tage später merkten die Bewohner an den Artilleriefeuern und Raketen, dass dies nicht einfach ein Attentat war. Der "Islamische Staat" hatte die Kontrolle über die Stadt übernommen. Dschassem ging nur noch einmal in die Bibliothek, um seinen Ausweis zu holen, kurz darauf floh er. Aus dem Exil im kurdischen Erbil verfolgte er, wie gut 80 Kilometer entfernt in seiner Heimatstadt die selbst ernannten Gotteskrieger Wissen und Bildung zu vernichten versuchten. Und wie sie den Ort zerstörten, den Dschassem fast zwei Jahrzehnte lang sein zweites Zuhause genannt hatte: die Bibliothek.
Mohammed Dschassem ist ein großer Mann. Ein Bär mit breiten Schultern, einem Schnurrbart und einem runden Bauch. Jetzt aber wirkt er ganz klein, wie er da in der düsteren Halle steht, die einst die Bibliothek war, zwischen verrußten Wänden und zerschmolzenen Regalen. Resigniert zuckt er die Schultern. "Ich komme nicht gerne hierher", sagt er und läuft langsam über den Staub verbrannter Bücher Richtung Treppe. "Es wäre mir lieber gewesen, der 'Islamische Staat' hätte mein Haus angezündet statt der Bibliothek."
Bücher werden in Ägypten geschrieben, im Libanon gedruckt und im Irak gelesen, lautet ein arabisches Sprichwort. Die Zentralbibliothek, sagt Mohammed Dschassem, war das Herz der Universität und das Zentrum des Wissens und der Bildung in Mossul. Eine Million Bücher umfasste ihr Bestand, darunter Tausende seltene historische Ausgaben. 50.000 Studenten nutzten die Bibliothek regelmäßig, und sie war eine Anlaufstelle für Wissenschaftler aus der ganzen Region. "Wenn die Leute über die Universität sprechen", sagt Dschassem, "dann meinen sie die Gebäude um die Bibliothek herum."
Als der "Islamische Staat" in Mossul die Macht übernahm, befahl er zunächst allen Mitarbeitern der Universität, ganz normal zur Arbeit zu gehen. Ein paar Monate später schloss er die Universität und nutzte den Campus stattdessen für seine eigenen Zwecke. Im Chemielabor baute er Bomben, im Verlagshaus druckte er sein Propagandamaterial. In der Bibliothek mussten extra beorderte Grund- und Sekundarschullehrer die Lehrmittel neu schreiben. In Mathematikbüchern zum Beispiel wurde nicht mehr mit Äpfeln oder Häusern gezählt, sondern mit Kalaschnikows und Selbstmordattentätern. Als im Frühling 2016 die Luftangriffe in Mossul zunahmen, steckten die Islamisten das Gebäude in Brand.
Dschassem steigt die Treppe hoch in den ersten Stock. Vorsichtig umrundet er ein metergroßes Loch, das ein dickes Geschoss eines Luftangriffs durch das Dach und die zwei Etagen gerissen hat, und betritt den Raum dahinter, der früher sein Büro war. Die Fensterscheiben sind zersprungen. Der Boden ist von Metallstangen und Schutt übersät.
Schon während seines Englisch- und Arabischstudiums hat Dschassem seine Zeit am liebsten in der Bibliothek verbracht. Nach dem Abschluss fing er an, hier zu arbeiten. 18 Jahre ist das her. 2014, kurz vor dem Einmarsch der Terroristen, wurde er zum Direktor ernannt. "In jeder Ecke dieses Gebäudes steckt eine Erinnerung. Die Sitzungen, die Feiern für die Mitarbeiter, der Ort, wo ich morgens immer meinen Kaffee getrunken habe."
Jetzt ist sein Büro ein paar Hundert Meter von der ehemaligen Bibliothek entfernt, im Hinterzimmer eines renovierten Flachbaus. Dschassem lebt zwar noch immer in Erbil, ist aber nach der Rückeroberung Mossuls in seine alte Position als Direktor zurückgekehrt. Als er zum ersten Mal nach der Befreiung das vom Ruß geschwärzte Gebäude der Bibliothek betrat, sei der Schock so groß gewesen, dass ihm schwindlig wurde. "Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens", sagt Dschassem. Danach sei er eine Woche lang krank gewesen.
30.000 von einer Million Bücher haben das Feuer überstanden. Nach der Befreiung half ein Team von Freiwilligen 40 Tage lang, sie aus dem Keller des Gebäudes zu holen. Raghad Hamadi ist eine von ihnen. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, bevor der "Islamische Staat" in Mossul einfiel, und zu jener Zeit hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie einmal als Freiwillige ihre eigene Bibliothek wieder aufbauen würde. Sie las außerhalb des Studiums nicht einmal Bücher. "Ich interessierte mich damals nur für mein Studium und meine Freundinnen", sagt Hamid.
Mit dem Lesen fing sie erst an, als der IS in Mossul die Kontrolle übernommen hatte. Die Universität war geschlossen. Hamadi saß zu Hause und fragte sich, ob das, was die Fanatiker des IS über den Islam erzählten, tatsächlich stimmen konnte. "Ich hatte mich zuvor nie groß mit meiner Religion beschäftigt", sagt Hamadi. Heimlich fing sie an, auf ihrem Handy PDF-Dateien von Büchern über den Islam zu lesen. "Ich merkte, dass vieles, was der 'Islamische Staat' propagierte, nichts mit dem Islam zu tun hat", sagt sie.
Jetzt sitzt Hamadi im Qantara, einem von zwei Buchcafés, die vor einigen Monaten in Mossul geöffnet wurden. Mittlerweile liest Hamadi nicht mehr nur Bücher über den Islam, sondern auch über Politik, Gesellschaft, Literatur. Nicht nur weil sie jetzt nicht mehr fürchten muss, dass die Fanatiker sie entdecken könnten, wie sie heimlich Bücher liest. "Die vergangenen drei Jahre haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen", sagt sie. "Wir müssen verstehen, wie es möglich war, dass der 'Islamische Staat' Mossul so lange beherrschte, damit so etwas nie wieder passieren kann."
Das Café Qantara befindet sich im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes an einer belebten Straße ganz in der Nähe der Universität. Gleich neben dem Eingang hat der Besitzer Saleh Elias einen kleinen Buchladen eingerichtet – ein Kulturcafé mit Veranstaltungen, Lesungen, Konzerten.
Seit Jahren schwebte ihm die Idee für einen solchen Ort vor, sagt Elias. Doch selbst bevor der "Islamische Staat" die Kontrolle über Mossul übernahm, wäre ein solches Projekt undenkbar gewesen. Al-Kaida, der "Islamische Staat" und diverse andere islamistische Milizen hatten die Stadt und ihre Bewohner im Griff wie eine Mafia: Autobomben, Selbstmordattentäter, Schutzgelderpressungen. Nietzsche, Marx oder Kafka in der Öffentlichkeit zu lesen war mit dem Risiko verbunden, als Ungläubiger verfolgt oder gar getötet zu werden. Wer solche Bücher zu Hause hatte, verstaute sie im Keller, statt sie ins Regal zu stellen. Dass sie heute also ganz selbstverständlich im Regal dieses Cafés stehen, ist beinahe revolutionär.
Im Hinterzimmer von Mohammed Dschassem klingelt seit ein paar Monaten unentwegt das Telefon. Leute aus der ganzen Welt rufen ihn an, weil sie Bücher für den Wiederaufbau der Bibliothek spenden wollen. "Mein größtes Problem im Moment ist, dass ich nicht weiß, wo ich die ganzen gespendeten Bücher lagern soll", sagt er.
Das verdankt er vor allem Omar Mohammed. Der Historiker, der die Jahre unter dem IS damit verbrachte, dessen Verbrechen zu dokumentieren, und auf dem Blog Mosul Eye Nachrichten aus Mossul veröffentlichte, hatte nach der Befreiung einen Spendenaufruf gestartet: Wer konnte, sollte Bücher, Magazine, Periodika, Archivmaterialien in allen Sprachen und aus allen Disziplinen nach Mossul schicken. Denn die Bibliothek wieder aufzubauen sei einer der wichtigsten Schritte, um Mossul sein ziviles Leben zurückzugeben.
Im vorderen Teil des Gebäudes, in dem sich Dschassems Büro befindet, stehen Regale voller Bücher, an den Tischen sitzen Frauen und sortieren die gespendeten Werke nach Disziplin und Aktualität. Viele Spenden kamen von anderen Universitäten aus dem Irak. Doch ein Großteil davon, vor allem die Standardwerke, seien ältere Ausgaben. "Ich bin der Überzeugung, dass wissenschaftliche Bücher auf dem neuesten Stand sein sollten", sagt Dschassem. Während er viele Bücher bereits doppelt und dreifach hätte, fehlte es nach wie vor an Periodika und Nachschlagewerken.
Manche Spenden, vor allem aus dem Ausland, hätten es noch gar nicht nach Mossul geschafft. Ein Schiff mit Containern voller Bücher, das im Oktober von Marseille über den Persischen Golf nach Basra unterwegs war, konnte im Hafen wegen fehlender Bewilligungen nicht anlegen und fuhr wieder zurück nach Europa. Selbst der Transport über Land vom Süden des Iraks nach Mossul ist kompliziert: Zuerst brauche es eine Bewilligung des höheren Departements für Bildung in Bagdad, dann die Bewilligung des Bildungsministeriums der autonomen Region Kurdistan.
Mittlerweile konnte die Bibliothek eine Partnerschaft eingehen mit der Wohltätigkeitsorganisation Book Aid International in London, um künftig Bücher zu bekommen, die auf dem neuesten Stand sind. Zudem erhält sie Zugang zum digitalen Bestand der Bodleian-Bibliothek der Oxford-Universität. Gleichzeitig arbeitet die Universität in Mossul noch daran, wieder ein eigenes Internetsystem aufzubauen. Statt der 120 Computer, die die Bibliothek vor dem Einmarsch des IS hatte, hätten sie im Moment zehn, sagt Dschassem. "Wir fangen wieder bei null an."
Dschassem ist nun im hinteren Teil des neuen Gebäudes angelangt. Hier lagern die Bücher und Zeitungen, die sie aus der zerstörten Bibliothek retten konnten. Er zieht eine Biografie über den Kalifen Salah al-Din aus einer Glasvitrine. "Das ist die einzige Kopie dieses Buches, die uns geblieben ist", sagt Dschassem. Dabei sei es ein Standardwerk, auf das Tausende von Studenten angewiesen sind. "Jeden Tag rufen mich Leute an, um zu fragen, ob ein bestimmtes Werk vorhanden ist oder nicht." Dschassem öffnet vorsichtig das Buch, blättert die Seiten um und fährt mit dem Finger über die eng geschriebenen Zeilen. "Manchmal", sagt er, "habe ich noch heute das Gefühl, dass der IS und die Zerstörung der Bibliothek nur ein böser Traum war, aus dem ich aufwachen muss."