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Von sinnlosen Toten und gesichtslosen Tätern

Die Tötung eines nigerianischen Offiziers durch Mitglieder der Sekte Boko Haram löste Mitte April einen militärischen Gegenschlag in Baga im Bundesstaat Borno aus, bei dem nach Angaben der Einwohner des Fischerdorfes über 200 Zivilisten getötet wurden - über die genauen Opferzahlen wird jedoch erbittert gestritten. Noch ist der genaue Geschehensablauf unbekannt und Details, die zur Aufklärung beitragen könnten, kommen nur nach und nach ans Licht. Klar scheint jedoch zu sein, dass zunächst Mitglieder der fundamentalistischen Gruppierung Boko Haram einen Soldaten der "Joint Task Force" (JTF) töteten, ebenjener Einsatztruppe, die zu deren Bekämpfung entsandt wurde. Was sich danach genau ereignete, darüber besteht bis zur Stunde Uneinigkeit.

Laut Aussagen von Vertretern der JTF mischten sich daraufhin Mitglieder Boko Harams unter die Zivilisten und griffen die Soldaten unter anderem auch mit Raketenwerfern und Maschinengewehren an. Bei ihrem Rückzug sollen sie dabei Brandbomben auf Wohnhäuser und Geschäftsräume geworfen haben.

Die Geschichte, die die Einwohner Bagas zu erzählen haben, ist jedoch eine gänzlich andere. Ihren Aussagen zufolge ist das neuerliche Blutvergießen nur das Resultat von schon vor dem "Massaker von Baga" aufgestautem Hass und Misstrauen der JTF den Einwohnern gegenüber, denen die Soldaten unterstellten, Boko Haram Schutz und Unterschlupf zu gewähren. Sie berichten daher, dass das Militär unmittelbar nach dem Angriff vor allem auf Rache aus war und dementsprechend wütete. Augenzeugen geben an, dass Soldaten Menschen verprügelten und auch auf Zivilisten schossen, dass sie Brandkörper warfen und Häuser absichtlich in Brand setzten. Die Wahrheiten, die im Umlauf sind, könnten konträrer nicht sein.

Eine Untersuchungskommission soll das "Massaker von Baga" nun aufklären

Dementsprechend uneindeutig sind auch die Angaben über die Zahl der Todesopfer und der zerstörten Gebäude. Einwohner des Fischerdorfes und Institutionen wie das Rote Kreuz gehen von knapp 200 getöteten Menschen und über 2.000 zerstörten Häusern aus. Das Militär bestreitet diese Zahlen. Seiner Ansicht nach forderte der Konflikt in Baga "nur" etwa vierzig Menschenleben und zerstörte knapp dreißig Häuser. Auch Präsident Goodluck Jonathan schloss sich zunächst der geschönten Darstellung der Joint Task Force an, musste dann aber zurückrudern, nachdem immer mehr Zeugenaussagen der Opfer übereinstimmend der offiziellen Version widersprachen und auch nichtstaatliche Organisationen wie Human Rights Watch anhand von Satellitenbildaufnahmen das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung nachweisen konnten.

Daraufhin sprach Jonathan zwar immer noch von "Fehlinformationen", versprach aber zumindest den Opfern eine umfangreiche Untersuchung des Falles und dass - falls Soldaten wirklich Fehler bei der Ausübung ihrer Mission begangen haben sollten - diese auch gemäß geltenden Gesetzen zur Verantwortung gezogen würden. In Richtung der Joint Task Force äußerte er, dass die Soldaten bei der Bekämpfung Boko Harams innerhalb des gesetzlichen Rahmens und umsichtig handeln und dafür Sorge tragen müssten, dass dabei keine unbeteiligten Parteien Schaden nehmen.

Zur weiteren Untersuchung soll sich nun die nationale nigerianische Menschenrechtskommission (NHRC) des Vorfalls annehmen. Sie ist im Idealfall von der Regierung unabhängig und will in neun Wochen mit ihrer Arbeit fertig sein. Unbestrittener Fakt ist aber bereits jetzt: viele Menschen starben, die meisten von ihnen Muslime, und jeglicher Besitz und die Lebensgrundlage vieler Überlebender wurden im Feuer zerstört - über die Details wird gestritten. Die "Wahrheit" liegt wohl irgendwo dazwischen.

Dass aber die Anschuldigungen gegen Soldaten der JTF nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, darauf lassen ähnliche Vorwürfe aus der nahen Vergangenheit schließen. So beschuldigt man die Einsatztruppe, bereits am 9. Oktober 2012 in dem kleinen Ort Gwange über die Stränge geschlagen und dabei über dreißig Menschen getötet und etwa fünfzig Häuser in Brand gesetzt zu haben.

Viele Gruppen, ein Name

Aufgrund dieser und ähnlicher Vorfälle werfen viele Nigerianer dem Militär daher vor, außerhalb gesetzlicher Normen zu handeln und sich insgesamt von denjenigen Bevölkerungsteilen zu entfremden, die es eigentlich beschützen sollte. Diese mangelnde Unterstützung in der Bevölkerung der betroffenen Gebiete ist sicherlich einer der Gründe, warum die Regierung das Problem Boko Haram nicht in den Griff bekommt. Zweifelsohne sind aber auch die Boko Haram-Mitglieder mitverantwortlich für das Desaster von Baga, da sie in jedem Fall den Stein ins Rollen gebracht haben.

Boko Haram wird mehr und mehr zu einem kaum greifbaren Phantom. Es ranken sich viele Spekulationen um die seit 2009 agierende Gruppe und auch über ihren derzeitigen Zustand kann nur gemutmaßt werden. Einig ist man sich offensichtlich in der Ansicht, dass Boko Haram mittlerweile in verschiedensten Splittergruppen aufgeteilt ist. Einige dieser Fraktionen scheinen dabei eine Metamorphose von einer lokal agierenden Gruppe mit vor allem nigerianischer Agenda hin zu einer global-dschihadistischen Gruppierung durchgemacht zu haben, die sich wohl auf Entführungen und Lösegelderpressung spezialisiert hat.

In den Entführer-Videos sprechen sie nun Arabisch statt Hausa und nehmen auch Stellung zu Themen jenseits der nigerianischen Grenze, wie die Situation in Mali oder Somalia. Auch wenn der Bombenanschlag auf das UN-Gebäude in Abuja im Jahr 2011 bisher das einzige internationale Ziel blieb - alles weist auf eine Internationalisierung hin. Schon seit längerer Zeit werden Boko Haram auch rege Kontakte zu anderen Organisationen wie Al-Qaida im Maghreb (AQMI) und Al-Shabaab in Somalia nachgesagt.

Aber nicht alle Gruppen, die unter dem Label Boko Haram agieren, haben auch wirklich eine rein religiös motivierte Agenda. Boko Haram ist möglicherweise eine Art Franchise geworden, dass eine Vielzahl von Organisation und Gruppierungen unter sich vereint.

Persönlichkeiten aus Nigerias Norden sollen den Dialog in Gang bringen

Dies hatte Präsident Jonathan noch bis vor kurzem dazu bewogen, im Bezug auf Boko Haram von "Geistern" zu sprechen, mit denen er ob ihrer Gesichtslosigkeit nicht verhandeln könne. Auch diesen Standpunkt revidierte er jedoch - sicherlich auch im Hinblick auf die von ihm angestrebte Wiederwahl 2015. Nun schlägt er das vor, was andere nigerianische Köpfe ihm in der Vergangenheit schon verzweifelt nahezulegen versucht und diesbezüglich mit Boko Haram schon konkret verhandelt hatten: ein umfangreiches Amnestieprogramm.

Dazu berief Präsident Jonathan eigens eine Amnestiekommission ein, nachdem ihn führende Persönlichkeiten aus Nigerias Norden und vor allem das "Northern Elders Forum" wochenlang diesbezüglich in den Ohren gelegen hatten. Das 26-köpfige Komitee soll nun innerhalb von drei Monaten zunächst den Dialog mit Boko Haram initiieren, um dann Pläne für ein umfangreiches Amnestieprogramm und die Entwaffnung der Gruppe auszuarbeiten. Zudem kommt ihm auch die Aufgabe zu, einen Vorschlag für die dringend nötige Kompensation der Opfer zu entwerfen. Angesichts dieser Herausforderungen sprach Jonathan bei Amtsantritt der Kommission davon, dass diese "wahre Magie" vollbringen müsse.

In der Vergangenheit hatte Nigeria gute Erfahrungen mit einem Amnestie-Angebot gemacht und dadurch den Konflikt im Niger-Delta zumindest entschärft. Doch die Ausgangssituation in dieser Region war eine völlig andere. Dementsprechend sind viele Nigerianer skeptisch gegenüber der plötzlichen Kehrtwende des Präsidenten im Fall Boko Haram. Viele sehen in dem Angebot nur einen subtilen Versuch der Regierung, die Gruppe in eine Amnestie zu drängen, nach der diese nie gefragt hatte und zu deren Annahme sie in ihrer gegenwärtigen, gestärkten Situation auch gar nicht gezwungen ist, da die eigens auf sie angesetzte Joint Task Force ihrer ja ohnehin nicht Herr wird.

Weite Teile der Bevölkerung lehnen das Amnestie-Angebot ab

Zweifellos haben auch Mitglieder von Boko Haram treffliche Gründe für ihren Aufstand. Ihre Anhänger radikalisierten sich in einem Klima von Armut, grassierender Korruption und hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere in nördlichen Landesteilen. Da schon die "Geburtsstunde" der Gruppe, die außergesetzliche Exekution ihres Anführers Mohammed Yusuf im Jahre 2009, aus einem klar gegen geltendes Gesetz verstoßenden Verbrechen resultiert, ist das Vertrauen und der Respekt gegenüber der Regierung gleich null. Hinzu kommt, dass nigerianische Sicherheitsbehörden etliche Angehörige und Verwandte von Mitgliedern Boko Harams verhafteten, viele von ihnen haben keinen Kontakt zur Außenwelt und fristen ihr Dasein oft monatelang ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung im Gefängnis.

Und doch muss unterschieden werden zwischen berechtigtem, möglicherweise legitimem Widerstand und eindeutig kriminellen Handlungen, wie sie von Boko Haram beispielsweise in Form von Attentaten, Bombenanschlägen, Banküberfällen und Entführungen dutzendfach begangen wurden. Entsprechend halten auch weite Teile der nigerianischen Öffentlichkeit das Amnestieangebot an Boko Haram für unmoralisch und ungerecht, ja gar für eine Einladung zu weiteren Straftaten.

Sprecher von Boko Haram lehnten erwartungsgemäß jegliches Entgegenkommen ab. Auch hier stellt sich allerdings die Frage, ob diejenigen, die sich zu dem Angebot äußerten, wirklich auch im Namen der gesamten Organisation sprechen oder ob nicht vielleicht einzelne Untergruppen Gesprächsbereitschaft zeigen könnten. Unabhängig davon lässt Boko Haram als Reaktion aber derweil vor allem Taten sprechen. Das Massaker von Baga ist dabei kein Einzelfall, sondern reiht sich vielmehr in eine ganze Serie von Gewalttaten. Wenig später kam es etwa im Dorf Bama zu einem ähnlichen Vorfall: Scharmützel mit Soldaten der Joint Task Force, ein Attentat auf einen Lokalpolitiker, eine Gefangenenbefreiung und Entführungen. Für die nigerianische Presse sind die täglichen Nachrichten von Verbrechen und Gewalt durch Boko Haram traurige Routine.

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