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Das Drama von Chibok

Rhoda Peters flüchtet sich vielleicht in Erinnerungen daran, wie sie mit ihrer Familie jeden Sonntag zur Kirche gegangen ist, während Elizabeth Joseph sehnsuchtsvoll an das Verstecken-Spielen mit ihrem Bruder zurückdenkt. Hauwa Ntaki versucht vielleicht, sich mit Träumen über ihr späteres Leben als Krankenschwester von ihrer Situation abzulenken. Denn ihr bisher unbeschwertes Leben und das Träumen von einer erfüllenden Zukunft wurden jäh beendet. In der Nacht vom 14. auf den 16. April 2014 begann der mittlerweile schon fast zwei Monate dauernde Alptraum von Mädchen wie Rhoda, Elizabeth und Hauwa, als Mitglieder der Terrorgruppe Boko Haram in ihre Schule im nigerianischen Ort Chibok eindrangen, sie auf Lastwagen zwängten und in ins Ungewisse verschleppten. Während einige der Mädchen fliehen konnten, indem sie von den offenen Lastwagen sprangen, befinden sich bis heute noch 223 Mädchen in den Händen der Terroristen. Da die Grenzen im unüberschaubaren Nordosten Nigerias porös sind, könnten die Schülerinnen zurzeit in Nigeria, ebenso gut aber auch in Kamerun, Niger oder Tschad sein. Außerdem haben die Entführer die Schülergruppe aufgeteilt und an unterschiedliche Orte verbracht.

Die Entführer wandten sich schon mehrfach in Youtube-Videos an die Öffentlichkeit. In einer Nachricht drohte Boko Harams Anführer Abubakar Shekau sogar an, die Mädchen "zu versklaven und auf dem Markt zu verkaufen". Shekau ist das mediale Gesicht der Terrorgruppe und vertritt sie in den meisten ihrer öffentlichen Statements. Obwohl der "Emir" auch innerhalb Boko Harams nicht unumstritten ist und die Vereinigten Staaten auf ihn ein Kopfgeld in Höhe von sieben Millionen Dollar ausgesetzt haben, konnte er bisher nicht dingfest gemacht werden. Schon mehrfach erklärten ihn die nigerianischen Behörden für tot oder tödlich verletzt. Es ist nicht einmal klar, ob überhaupt immer (noch) derselbe Shekau in den Youtube-Nachrichten der Terroristen auftritt. Wie die Gruppe selber ist auch ihr Anführer ein Phantom, das sich kaum fassen lässt.

Eigentlich ist Nigeria ein Land, in dem das Zusammenleben weitestgehend durch friedliche Koexistenz gekennzeichnet ist. Es ist zu simpel, seine Bevölkerung einfach in "den muslimischen Norden" und "den christlichen Süden" zu unterteilen. Genauso wenig ist auch die Auseinandersetzung mit Boko Haram ein Konflikt, der nur entlang religiöser Grenzen verläuft. Der Terror richtet sich gegen Muslime und Christen gleichermaßen, wichtige Vertreter beider Religionsgemeinschaften im In- und Ausland zeigten sich bestürzt über die jüngsten Entgleisungen Boko Harams.

Der Terrorgruppe ist kaum Einhalt zu gebieten

Seit 2013 in den drei besonders von Boko Haram heimgesuchten Bundesstaaten Adamawa, Yobe und Borno der militärische Ausnahmezustand ausgerufen wurde, richtet die Terrorgruppe ihre Anschläge sogar immer öfter gegen leichtere, unbewachte Ziele. Den Angriffen fallen daher in letzter Zeit insbesondere Schulen und abgelegene Dörfer zum Opfer, da die massive Präsenz des Militärs den Angriff auf strategisch wichtigere Ziele wie Polizeistationen oder Militärbaracken erschwert hat.

Und doch kann auch die erhöhte Militärpräsenz dem Treiben der Terroristen kaum etwas entgegensetzen. Dies liegt zum einen an der schieren Größe und Unübersichtlichkeit des nordöstlichen Grenzgebiets. Zudem leidet die Armee aber auch in weiten Teilen unter Korruption, Unterfinanzierung und mitunter schlechter Ausbildung. In der Bevölkerung hat sie zudem ob ihrer rücksichtslosen Vergeltungsschläge und aufgrund zahlreicher, öffentlich angeprangerter Menschenrechts¬verletzungen einen schlechten Ruf und kaum Rückhalt. Allein die Tatsache, dass die Entführer der mehr als zweihundert Mädchen diese vermeintlich unbemerkt an einen lange Zeit unbekannten Ort verschleppen konnten, hat die Vermutung aufkommen lassen, dass Teile des Militärs in die Entführungspläne eingeweiht gewesen sein müssen. Da der Staat vor allem in Borno nur lückenhaft den Schutz von Zivilisten gewährleisten kann, haben sich vielerorts Bürgerwehren gebildet, die selbst für ihre Sicherheit und die ihrer Angehörigen sorgen müssen. Oft sind diese sogenannten "Joint Task Forces" jedoch nur spärlich bewaffnet und den sehr gut ausgerüsteten Terroristen weit unterlegen.

Zögerliche Reaktion der Regierung

Die nigerianische Regierung unter Präsident Goodluck Jonathan reagierte zunächst sehr zögerlich auf die Massenentführung von Chibok. Im ganzen Land verursachte das Gefühl, das die eigene Regierung sich um das Schicksal der entführten Mädchen nicht so recht kümmern zu wollen scheint, aufgebrachte Proteste. Erst nach zwei Wochen äußerte sich Präsident Goodluck Jonathan überhaupt zur Situation und hat bis heute den Ort des tragischen Geschehens, Chibok, nicht besucht. Ihren Ärger brachten nigerianische Bürgerinnen und Bürger in Demonstrationen auf die Straße und über soziale Netzwerke schließlich auch in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Anders als bei der vielfach kritisierten, von einer amerikanischen NGO initiierten Jagd auf den ugandischen Rebellenführer Joseph Kony und der Twitter-Kampagne #Kony2012, ging hier der zündende Funke von den Betroffenen selbst aus und fand unter der getwitterten Aufforderung #BringBackOurGirls weltweit Unterstützung.

Erst unter dem massiv wachsenden, öffentlichen Druck zeigte die Regierung in Abuja schließlich mehr Engagement für die Befreiung der Schülerinnen. Auch internationale Partner wie Frankreich, Großbritannien, Israel, China und die USA boten daraufhin ihre Hilfe bei der Suche an und haben teilweise bereits Militärberater und technische Hilfsmittel entsandt. Eine direkte militärische Intervention lehnten aber bisher alle unterstützenden Nationen ab. Auch viele Nigerianer stehen aber einem externen militärischen Eingreifen sehr kritisch gegenüber und befürchten, dass schon die derzeitige Krisen-Unterstützung durch westliche Partner an Bedingungen geknüpft sein könnte und einem intensiveren und möglicherweise permanenten fremden Militärengagement Tür und Tor öffnet. Gerade US-Präsident Barack Obama versucht in seinem globalen Kampf gegen den Terror zunehmend, lokale Partner und Einfluss in dieser Region zu gewinnen.

Vor diesem Hintergrund scheint die vor allem in den Vereinigten Staaten erfolgreiche und sogar von First Lady Michelle Obama unterstützte Twitter-Kampagne #BringBackOurGirls amerikanischen Interessen durchaus entgegen zu kommen. Der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole resümiert denn auch ironisch ebenfalls auf Twitter: "Wenn die Hasthtags verstummen, dann tauchen die Bodentruppen auf." Diese Sorgen sind jedenfalls nicht unbegründet. So fordert beispielsweise der amerikanische Senator John McCain, dass sich sein Heimatland auch ohne das Einverständnis der nigerianischen Regierung ein direktes militärisches Einschreiten vorbehalten solle. Doch so simpel ist die Lösung der Misere nicht. Das Problem wird sich nicht durch ein - wie Republikaner McCain sagte - "chirurgisches" und "effizientes" Eingreifen amerikanischer Soldaten lösen lassen.

Frustation und Perspektivlosigkeit treiben junge Männer in die Arme Boko Harams

Obwohl laut Aussage von Armeechef Alex Badeh der Aufenthaltsort der Schülerinnen von Chibok nach vierwöchiger Suche mittlerweile bekannt ist, wird für ihre Befreiung eine rein militärische Lösung nicht ausreichen und selbst die Armee hat diese Option mehr oder weniger ausgeschlossen. Zu groß ist die Gefahr, durch eine fehlgeschlagene Rettungsaktion das Leben der Mädchen zu gefährden. Obwohl Regierungsmitglieder ein Angebot Boko Harams für den Austausch einiger Mädchen gegen inhaftierte Mitglieder der Terrorgruppe kategorisch ablehnten, ist das Aushandeln eines wie auch immer gearteten Deals die wahrscheinlichste Lösung. Hinter den Kulissen werden wohl auch schon entsprechende Gespräche geführt. Die britische Tageszeitung The Daily Mail schreibt, dass der Australier Stephen Davies schon seit knapp einem Monat im Auftrag des Präsidenten Goodluck Jonathan Verhandlungen für eine Freilassung der Schülerinnen führt. Der Geistliche hatte schon in Gesprächen mit Milizen aus dem durch Erdölförderung verseuchten Niger-Delta Verhandlungsgeschick bewiesen.

Davon abgesehen gilt es aber vor allem, die strukturellen Ursachen der gegenwärtigen Krise um Boko Haram anzugehen. Denn auf dem Papier steht Nigerias eigentlich außerordentlich gut da. Die Bevölkerung ist jung und die Mittelschicht wächst stetig. Die Wirtschaft verzeichnet hohe Wachstumsraten und erst vor wenigen Wochen hat Nigeria nach einer Neuberechnung des Bruttoinlandsprodukts Südafrika als stärkste Wirtschaftsmacht des Kontinents abgelöst. Doch der Schein der Daten trügt. Denn den größten Teil seiner Einnahmen erzielt der nigerianische Staat nach wie vor aus dem Ölgeschäft, der Wohlstand kommt bei den meisten Bürgern kaum an. So sorgen vor allem im Norden Armut, Perspektivlosigkeit und Frustration über den korrupten Regierungsapparat vielerorts dafür, dass noch immer junge Männer in die Arme Boko Harams getrieben werden.

So oder so muss aber die schnelle Befreiung der 223 noch entführten Schülerinnen und die Beseitigung der tieferliegenden Ursachen des blutigen Konflikts von Nigeria selbst bewältigt werden. Am Wichtigsten wird es sein, dass Nigeria allen seinen Bürgern ein Gefühl von Sicherheit zurückgibt. Damit Zivilisten nicht länger zu Waffen greifen müssen, um ihr Leben zu verteidigen und damit Mädchen wie Rhoda, Elizabeth und Hauwa wieder ohne Angst zur Schule gehen können.

Sie finden Marvin Kumetat auf Twitter unter: twitter.com/ninaitwamk
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