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Heute Leid, morgen Luxus

An der Kurfürstenstraße verkaufen Prostituierte Sex für 20 Euro. Ein Penthouse kostet 1,6 Millionen Euro. Ein Kiez voller Gegensätze.


Das mit dem Leben und dem Lassen, auf der speckigen Bierbank bei Bianca geht das. Noch. Vielleicht liegt es an der schweren Sommerluft, vielleicht am billigen Schultheiß. Vielleicht auch daran, dass Wirtin Bianca die Crystal-Meth-Junkies aus ihrem Stehcafé zurück auf den Straßenstrich scheucht - wer weiß das schon. Jedenfalls sitzen sie hier nebeneinander: Die Anwohnerin mit den Flecken auf der Malerhose und dem Suff in der Stimme, der Zuhälter mit glänzendem Bauch unter dem hochgekrempelten T-Shirt, die Gaffer, die Transe mit dem verschmierten Lippenstift, der türkische Opa, Adriana, Denise, Maria und wie sie sich so nennen, die Prostituierten von der Kurfürstenstraße.


Wenn mittags eine bassgetriebene C-Klasse von der Bülowstraße in den Straßenstrich biegt, eine Frau ihre High Heels aus der Beifahrertür streckt, dann starrt auf Biancas Bierbank jeder in seine eigene Leere. Drinnen lassen die Prostituierten ihren Lohn in den Automaten fallen, pfeifen die Scorpions aus dem Flachbildschirm.


Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow
dream away
In the wind of change

Der Wandel, in der Kurfürstenstraße riecht er nach frischem Zement und billigem Parfüm. Über dem Strich kreisen die Baukräne, wachsen Stock für Stock die Luxuswohnungen. Wo vorher die Freier den Prostituierten auf Brachflächen folgten, verhindern jetzt Bauzäune den billigen Sex im Freien. Das macht das mit dem Leben und dem Lassen nicht gerade leichter. Anwohner klagen über mehr Dreck, mehr Lärm, weniger Anstand. Ein Bezirksbürgermeister von den Grünen scheint sie erhört zu haben. Stephan von Dassel hat dem Straßenstrich den Kampf angesagt.


Sie flucht zum Himmel, er spuckt zu Boden

„Willst du Spaß?", fragt sie. Sie steht im Slip vor Biancas Laden, zeigt ihre Zahnlücken. Neben ihr ein Mann in Jogginghose. Er schubst sie nach vorn, hin zum potenziellen Freier. „Ne, danke." „Waruuuum?" „Hab noch nicht mal Geld." „20 Euro. Ficken, Blasen, eh?" „Lass ma." Die Frau im Slip flucht zum Himmel, der Mann in Jogginghose spuckt zu Boden.


Weiter vorn, Richtung Kurfürstenstraße, steigt jemand auf ihr Angebot ein. Die Frau im Slip und ein Mann in kurzer Jeanshose verschwinden hinter dem Spielplatz am Jugendzentrum in einem Hof, dorthin, wo gebrauchte Kondome, Pisse und Papiertaschentücher die Tiefgarageneinfahrt herabfließen.


Kurfürstenstraße. Das war schon vor 130 Jahren Straßenstrich, Drogen, Elend. So sieht es Monika Nürnberger, eine Frau mit rot gefärbten Haaren, bunten Unterarmen, ruhiger Stimme. Sie leitet den Frauentreff Olga, kennt den Kiez seit mehr als 30 Jahren.


So ätzend wie jetzt war es noch nie. So sieht es Manfred Gerner, ein 70-Jähriger mit einem Wohnzimmer voller ausgebleichter Familienfotos, auf dem rechten Ohr halb taub, der echte Name besser unerwähnt. Er will nicht, dass das Elend in High Heels durch den Kiez stolziert. Er will den Kot und den Sex nicht im Vorgarten seines Mietshauses.


So schön wie in fünf Jahren wird der Kiez noch nie gewesen sein. So sieht es Jens Noack, Geschäftsführer der Lagrande Immobilien GmbH - dunkles Hemd, dunkle Locken, gute Laune. Er hat die Zukunft auf eine lastwagengroße Werbetafel gebannt. Sie prangt über der Kurfürstenstraße und zeigt sein Bauprojekt: Schönegarten, Central Berlin. Noack sagt, die Architektur sei ein Kunstwerk, die Fassaden beseelt, das Flair künstlerisch. Und der Strich? „Das wird sich hier von alleine regeln."


Wird es nicht. Wer weiß das besser als Stephan von Dassel? Gut ein Jahr ist es her, da ließ der Bezirksbürgermeister von Mitte wissen: „Ich halte es für richtig, die Straßenprostitution in der Innenstadt zu verbieten." Ein Grüner will den Sperrbezirk? „Es darf keine Denkverbote geben", sagt von Dassel. Und: „Wir können nicht weiter wegschauen, das sind wir den Anwohnern schuldig." Seither hat von Dassel noch eine ganze Reihe vermeintlicher Denkverbote gebrochen. Gedanken realisiert hat er bislang kaum. Aber dazu später mehr.


Die Gentrifizierung kommt spät und ungebremst

Normalerweise geht das mit der Gentrifizierung so: Studenten, Künstler, Kreative entdecken die billigen Mieten in einem abgehängten Viertel. Sie machen den Kiez cool und damit für Investoren attraktiv. Dann kommen Modernisierungen, Dachgeschossausbau, Ferien- und Zweitwohnungen - und die Preisexplosion. Erst verschwinden die Abgehängten, dann die Coolness.


Mit der Kurfürstenstraße ist das anders. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist das hier die Schmuddelecke des alten Westens, schon damals boten im Zwielicht der Mietskasernen Prostituierte ihre Dienste an. Mit der Mauer wurde der Kiez Peripherie, dann Strich für Minderjährige und Heroin-Junkies. Gastarbeiterfamilien zogen in billige Mietwohnungen.

Mit der EU-Erweiterung entdeckten zuerst Polinnen und Tschechinnen den Strich, dann organisierte Gruppen aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Manche kommen auf eigene Faust, mit Männern, die irgendetwas zwischen Zuhältern und prügelnden Partnern sind. Manche kommen in Familienverbänden. Die meisten sind Roma. Die einen gehen auf Strichtour - Amsterdam, Hamburg, Berlin - die anderen bleiben dauerhaft. Sie schlafen in Untermiete bei Rentnern im Kiez, in Prostituierten-Wohnungen, im Obdachlosenheim, im Park.


Das Elend hielt die Mietpreise lange am Boden. Aber ein Blick auf die Stadtkarte reicht, um zu verstehen: das kann so nicht bleiben. 20 Minuten Fußweg zum Potsdamer Platz, 15 Minuten zum KaDeWe. Tiergarten da, Gleisdreieck-Park dort, Philharmonie, Bikini-Haus, Neue Nationalgalerie, Diplomatenviertel, alles in der Nachbarschaft.

Der Kurfürstenkiez muss nicht erst cool sein, um teuer zu werden. Hier wachsen die Luxuswohnprojekte direkt am Elendsstrich. Das Carré Voltaire ist so gut wie bezugsfertig. Eine Penthousewohnung über zwei Etagen kostet dort 1,6 Millionen Euro. In der Genthiner Straße 40 entstehen 113 Wohnungen, Durchschnittspreis 6500 Euro der Qua­dratmeter. Der Schönegarten ist noch größer und nicht viel billiger.


Jens Noack steht dort, wo einst ein Parkplatz war, dann einer dieser verwilderten Brachen. Jetzt blickt er auf eine wüstenbraune Baugrube, seine Projektmanagerin wälzt die Katalogseiten im DIN-A0-Format. „Wir entwickeln hier ein ordentliches Projekt, das den Standort verändert", sagt Noack. Geplante Fertigstellung: 2020. Verkaufsquote heute: 60 Prozent.


Druck auf die Politik steigt

Der Straßenstrich sei bei den Verkaufsgesprächen kein Thema. Wenn die Einwohner wohlhabender werden, wird der Druck auf die Politik steigen, die Prostituierten aus der Blickweite verdrängt. So lautet die einvernehmliche Rechnung. Zu den Verkaufsgesprächen lädt Lagrande die Kunden aber lieber ins Büro in der Nähe vom Kurfürstendamm. Großbildschirm, 3-D-Modell. „Da kommen die Qualitäten des Projekts zur Geltung", sagt Noacks Projektmanagerin. Warum die Gegenwart anpreisen, wenn man die Zukunft verkauft?


Später Nachmittag. Die Penthäuser und Panoramablicke der Zukunft glänzen auf dem Werbebanner rund um Noacks Baustelle, davor pirscht eine Frau in getigertem Stretch-Anzug die Kurfürstenstraße entlang. In der Nische an der Zwölf-Apostel-Kirche, in der sich längst der Urin in den Asphalt gefressen hat, ziehen Frauen ihre Jogginghosen aus, holen neonfarbene Hotpants aus Tragetaschen hervor.


An die 100 Prostituierte arbeiten über den Tag verteilt im Kiez. Wer Sex will, der hat entweder ein Auto, zahlt fünf Euro für die Videokabine im Kaufhaus LSD (Love Sex Dreams) - oder wird draußen bedient. Früher gab es dafür die Brachflächen. Heute nutzen die Prostituierten die Tiefgarageneinfahrt neben der Villa Schöneberg. Das ist eine Jugendeinrichtung und das Gejohle ist groß, wenn die Kids den gekauften Sex über den Zaun beobachten. Heute wird das Crystal-Meth im Hauseingängen inhaliert, die Notdurft geht in den Garten der Stadtbibliothek.


Vorne am LSD jagt eine Frau, die Straßen auf und ab, blondierte Haare, männliche Gesichtszüge, kehliges Lachen. Irgendetwas befeuert sie, ob es die Drogen oder der Entzug ist, sie will es nicht verraten. Einen Passanten zerrt sie an der Hand in Richtung Videokabinen, dem nächsten stellt sie sich in den Weg, fasst ihm in den Schritt. „Komm schon!"


Es sind solche Szenen, die Anwohner gegen den Straßenstrich aufbringen. Der bärtige Fleischer Tahsin (35) sagt, die Prostituierten ruinieren sein Geschäft. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Halal-Metzgerei Semerkand. „Die belästigen unsere Kunden", sagt Tahsin. Im Hinterhof der Semerkand-Metzgerei versteckt sich die gleichnamige Moschee. Auf dem Weg zum Freitagsgebet richten die Gläubigen ihre Blicke zu Boden. Tahsin hat seine Unterschrift unter eine Petition gesetzt. Die stammt vom Arbeitskreis „Gegen den Strich". Der Name ist ihr Programm.


Zwei beteiligte Bezirksämter sind sich uneins

Manfred Gerner, der Rentner mit den vielen Fotos im Wohnzimmer, gehört zum Arbeitskreis. Er und die anderen wollen die Prostituierten aus dem Kiez verbannen. Ständig zeigen sie sich die neuesten Fotos vom Unrat, erzählen sich Geschichten von aufdringlichen Prostituierten, schreiben offene Briefe. An den Senat, an die zwei Bezirksämter, die hier zuständig sind. Tempelhof-Schöneberg, so sieht es Gerner, liegt es mehr am Wohl der Prostituierten als an dem der Anwohner. Aber sie haben ja noch den Bezirksbürgermeister von Mitte, sie haben von Dassel. Wenigstens einer greift durch, so sehen sie es im Arbeitskreis. „Er kämpft einen einsamen Kampf", sagt Gerner.


Dass der Sperrbezirk nicht umzusetzen ist, dürfte von Dassel schon vor einem Jahr gewusst haben. Seine BVV hat sich dagegen ausgesprochen. Eine Sperrgebietsverordnung müsste sowieso der Senat beschließen. Zwar wünschen sich das knapp 60 Prozent der Anwohner. Aber wer die Prostitution aus dem Kiez verbannt, muss sie anderswo erlauben. Politischer Selbstmord. Danach dachte von Dassel laut über sogenannte Verrichtungsboxen nach, also Container, in denen die Freier bedient werden. Dann darüber, die Kundentoilette eines Möbelhauses für die Prostituierten zu öffnen. Über 100-Meter-Bannzonen um Kinder- und Jugendeinrichtungen. Ein Schwerpunkt-Team des Ordnungsamts. Dixi-Klos.


Bio-Toiletten statt Sperrbezirk

Ein Dienstagabend im Juli am anderen Ende des Bezirks. Müdes Sonnenlicht blendet den Bezirksbürgermeister. Hauptausschuss. Von Dassel versucht es mit Humor: „Ich dachte, ich rufe da an, und drei Tage später stehen die Dixi-Klos." Aber nein, die Verleiher wollten nichts mit Prostitution zu tun haben. Dann habe er doch eine Firma gefunden. Mobile Toiletten aus Holz, keine Chemie, Holzspäne, Kompost. „Die sind teurer, aber dafür grün."


Am Ende von Tagesordnungspunkt 5.3 und nach knapp einem Jahr Diskussion über Sperrbezirke und Verrichtungsboxen, lautet die Beschlusslage: zwei Dixi-Toiletten für den Straßenstrich sollen her, eine in Schöneberg, eine in Mitte. Und Piktogramme, die den Sexarbeiterinnen erklären, dass sie bitte nicht vor Kitas oder Jugendzentren stehen sollen. Zudem will Mitte die Beratungsangebote von Tempelhof-Schöneberg mit unterstützen.


Ernüchternd, Herr von Dassel? „Ich bin schon genervt, wie langsam das alles geht."

Verrichtungsboxen, Sperrbezirk, Sperrzonen. Geht man die Diskussion mit Monika Nürnberger vom Frauentreff Olga durch, dann hört man die Resignation in ihrer Stimme. Das alles ist nicht neu, wurde oft diskutiert, nie umgesetzt. Wütend aber macht sie etwas anderes. Die Heuchelei. Den Strich-Gegnern sei die Not der Frauen egal, sie wollten sie bloß nicht mit ansehen.


Dabei hat so ein Strich mitten in der Stadt durchaus Vorteile. Und das erzählt einem nicht Monika Nürnberger, das ist die offizielle Aussage der Polizei. Je öffentlicher Prostitution stattfindet, desto mehr soziale Kontrolle, desto weniger Gewalt und Kriminalität im Umfeld. Es gibt Statistiken, die das belegen: die Zahl der Anzeigen rund um den Strich ist in den letzten Jahren rapide zurückgegangen. Eine andere Zahl aber ist hochgegangen: 342 Kellereinbrüche gab es im Jahr 2017 in Tiergarten Süd, also dort, wo der Kurfürstenkiez im Bezirk Mitte liegt. Ein Jahr zuvor waren es noch 13. Eine Theorie lautet: Weil die Polizei mehr kontrolliert und weil die Orte für billigen Sex und damit die Einnahmen schwinden, holt sich jemand die Verdienstausfälle mit Einbrüchen wieder.


Am Ende, so sagt es ein Präventionsbeauftragter der Polizei, sei Prostitution nun mal erlaubt. Zuhälterei, wie sie an der Kurfürstenstraße stattfindet, strafrechtlich nicht zu fassen. Versuche, organisierte kriminelle Strukturen nachzuweisen, sind gescheitert. Man müsse also dafür sorgen, dass sich der Kiez selber reguliert. Hört man sich bei den Fraueneinrichtungen um, in Jugendzentren, dann sind sich alle einig: Die meisten Frauen benehmen sich. Aber eben nicht alle. Ständig kommen neue Frauen dazu, ständig ist eine zu breit, zu drauf, zu verzweifelt.


"Die auf Crystal, die ticken einfach aus"

Es ist dunkel geworden um Biancas Steh-Café. Ein Mann in Tennisschuhen nimmt Anlauf, tritt eine Frau auf Stöckelschuhen. Seine Frau. Für seinen Geschmack hat sie zu viele Münzen in den Automaten geworfen. Noch ein Tritt. Sie kreischt, dann geht sie wieder an den Straßenrand. Wirtin Bianca steht breitbeinig vor dem Laden, Headset im Ohr, Handy in der Hand. „Heroin, Koka, Gras, damit kann ick umjehn", sagt Bianca. „Aber die auf Crystal, die ticken einfach aus." Ständig fliegen hier die Aschenbecher.


Aber wenn Bianca einmal laut wird, dann kuschen die Männer im Stehcafé. Die Frauen nennen sie Schwester. Wie sorgt man hier für Ordnung, Bianca? „Klare Ansagen. Öfter mal ne Schelle", sagt Bianca.


Um halb zwölf Uhr nachts tritt Bianca vor den Laden. Feierabend. Jetzt schmeißt eine Ex-Prostituierte den Laden, ein Zuhälter soll aufpassen. Die U2 wischt über die Bülowstraße. „Baut keen Scheiß", sagt Bianca. Und dreht sich um.


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