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Wenn es für Berliner Türken nur noch Ja oder Nein gibt

Die Türken stimmen über die Verfassungsreform ab. Die entscheidenden Stimmen könnten aus Deutschland kommen. Eine Zerreißprobe


Herr Arşen hat seine Pflicht getan. In einem der acht weißen Container, Heerstraße 21, Türkisches Generalkonsulat. Hier dürfen Deutschtürken aus Berlin, Brandenburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern über einen Umbau des türkischen Staates abstimmen. Mehr Macht für den Präsidenten? Evet oder Hayir, Ja oder Nein?


Der 72-Jährige mit dem grauen Stoppelbart und den freundlichen Augen bahnt sich seinen Weg an Fernsehteams aus Russland, China, Polen und Berlin vorbei. Wenn man Mehmet Arşen fragt, wie er abgestimmt hat, dann kommt er ins Schwärmen, spricht von seiner Liebe für den Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, einen Mann, dem in Deutschland seit einigen Monaten das Etikett Diktator anhaftet. Menschen wie Arşen ärgert das. Er zählt die Heldentaten seines Präsidenten auf: Krankenhäuser habe Erdogan aufgebaut, Autobahnen, Flughäfen, Brücken. „Die Türkei ist jetzt stark, so stark wie Europa", sagt Arşen. Aber viele wollten seine Heimat wieder am Boden sehen: Merkel, die Putschisten, die Terroristen, die Vaterlandsverräter - damit sind die Gegner der Verfassungsreform gemeint.


Arşen lebt seit 50 Jahren in Berlin, hat einen Lebensmittelladen in Neukölln aufgebaut, ein Leben in Sicherheit und Wohlstand für die Familie. „Deutschland ist meine zweite Heimat", sagt er. Und dann sagt er so etwas: Er habe gehört, Europa stünde ein großer Krieg bevor. Mit seinen Händen deutet er die Kriegsparteien an: zwei Zeigefinger werden zu einem Kreuz, Daumen und Zeigefinger zum Halbmond. Christen gegen Muslime. Der Rentner sagt: „Ich bin bereit, in diesen Krieg zu ziehen."


Der viertgrößte türkische Wahlkreis kann entscheiden

Was ist passiert? Wie kommt ein Berliner Rentner auf die Idee, in einen Religionskrieg zu ziehen? Warum unterstützten so viele einen Mann, der deutsche Kritik an seinem Wahlkampf als Nazi-Methoden bezeichnet, der den Posten des Parteichefs, Staatschefs und Regierungschefs auf eine Person konzentrieren will?


Am 16. April entscheiden die Türken darüber, ob das parlamentarische System in ihrem Land einem Präsidialregime weichen wird. Die Umfragen deuten auf ein sehr knappes Rennen hin. Und so könnte der viertgrößte türkische Wahlkreis entscheiden: Deutschland. 1,4 Millionen Türken dürfen hier noch bis 9. April abstimmen. Sie werden als eher konservativ-religiös eingeschätzt, AKP-nah. Aber auch hier sind die Mehrheiten knapp verteilt.


Was geschieht mit Menschen, die auf einmal von deutschen Nachbarn als Anhänger einer Diktatur betrachtet werden? Mit einer Community, in der es nur noch Schwarz oder Weiß gibt, Vaterlandsverräter oder Diktatorenmacher, Ja oder Nein? Ein Tag rund um das Kottbusser Tor gibt ein Gefühl dafür.


Der Barista mit dem akkurat getrimmten Vollbart will nicht reden - und hört doch nicht auf damit. Er habe mit Ja gestimmt. Wenn der Reporter in Richtung Oranienstraße laufe, würde er auf die PKK-Terroristen treffen, im Wrangelkiez auf die „richtigen Türken". Der Restaurantbesitzer sagt: „Wenn in der Zeitung steht, dass ich mit Nein stimme, dann verliere ich die Hälfte meiner Kundschaft."


Die Bäckerin will nicht reden. Ihr Kunde sehr wohl: „Was geht euch Deutsche das an? Lasst das mal unsere Sache sein!" Ein Mann sitzt vor einer Bar am Kottbusser Damm, raucht, schlürft süßen, roten Tee, ist sauer. Mit Bussen würden Nein-Wähler zum Konsulat gekarrt - bezahlt vom Bezirk. Oder doch von Cem Özdemir? In einem verrauchten Café am Maybachufer, vor graubrauner Istanbultapete, sitzen ein Ja- und ein Nein-Wähler an einem Tisch: kein Problem. Aber mit der Zeitung reden? Nein. Der Erdogan-Anhänger fürchtet um seinen Arbeitsplatz am Flughafen.


Gerüchte, Verleumdungen, Spaltung, Angst. Eine explosive Mischung, sagt Gülistan Gürbey, Türkei- und Integrations-Expertin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften. „Vieles hängt davon ab, wie Erdogan mit dem Ergebnis umgehen wird", sagt die Politologin. Die Niederschlagung der Gezi-Proteste, Terroranschläge, Neuwahlen, Putschversuch, vermeintliche Anfeindungen aus Europa. Mit diesem Vorlauf habe es Erdogan geschafft, den Wahlkampf auf ein Thema zu reduzieren: Sicherheit. Die Türkei ist bedroht, nur ein starker Präsident kann das Land retten. So sieht es die AKP, so transportiert sie es über die türkischen Medien. Die eigentliche Reform, die 18 Änderungen der Verfassung, das werde nicht diskutiert. „Wenn Erdogan die Eskalation weiter befeuert, birgt das Potenzial für Unruhen", sagt Gürbey.


Wo also verläuft die Trennlinie, zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager? Mitten durch Kreuzberg, zum Beispiel. Gegen Erdogan, das ist ein großer Teil der alevitischen Glaubensgemeinde. Auch die Kurden sind überwiegend gegen die Verfassungsreform. Dann sind da noch die Anhänger der HDP, der linken Demokratischen Partei der Völker. Viele ihrer Politiker sind nach dem Putschversuch im Gefängnis gelandet. Die Unterstützer der HDP ziehen nachts durch Berlin, hängen Nein-Plakate auf, projizieren ihr Hayir auf Häuserfassaden, organisieren Minibusfahrten für Nein-Wähler zum Konsulat. Erdogan wirft ihnen die Unterstützung der terroristischen PKK vor, für seine Anhänger sind sie Vaterlandsverräter.


Einer von ihnen trinkt Espresso auf dem Balkon des „Café Kotti", blickt auf Gemüsestände, die Hochbahn, Betonklötze mit Graffiti - auf seinen Kiez. Hilmi Kaya Turan, 56 Jahre alt, Ex-Dreher bei Daimler-Benz in Marienfelde, Ex-Gewerkschafter, Ex-Sprecher der Türkischen Gemeinde Deutschlands. Atheist, Frührentner, Vater von zwei Töchtern. Sie sind Deutsche, er Türke. Turans Vater war Mitglied der türkischen Arbeiterpartei und floh 1971 nach Deutschland, in einer Zeit, in der das Militär repressiv gegen die Bevölkerung vorging. Sein „Nein" gab Turan schon am ersten Tag der Abstimmung ab. Er sagt: „Ich will nicht, dass die Türkei in mittelalterliche Zustände abrutscht."


Mit der Verfassungsreform bewege sich die Türkei auf ein Ein-Mann-Regime hin. „Ich will, dass das aktuelle parlamentarische System weiterentwickelt wird, hin zu mehr Demokratie", sagt Turan. Für ihn ist klar: Die Türken werden das Verfassungsreferendum ablehnen. „Das wird der Anfang vom Ende für Erdogan."


Und wenn nicht? Turan fürchtet, in Zukunft nicht mehr in seine Heimatstadt, auf der europäischen Seite der Türkei, zurückkehren zu dürfen. Als Erdogan-Gegner sei er schon heute, hier in Berlin, Anfeindungen ausgesetzt.


Wer also sind diese Berliner Erdogan-Anhänger? Eine gängige Beschreibung: Leute, die nicht gut integriert sind, die sich in ihrer alten Heimat mehr zu Hause fühlen als in ihrer neuen, die nicht in Deutschland wählen, die hier ihre Träume nicht erfüllen konnten. Doch ganz so einfach ist es nicht, das beweist schon Mesut Kösker. Der Kfz-Mechaniker lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Berlin, ging hier zur Schule, hat in Kreuzberg, wenige Hundert Meter vom „Café Kotti" entfernt, eine Kfz-Werkstatt aufgebaut. Vor einem Jahr zog er mit ihr nach Lichtenberg. Er beschäftigt sechs Mechaniker: Deutsche, Polen, Türken, Armenier. Seine Tochter erledigt im Büro die Buchhaltung: mit strahlendem Lächeln und grünem Hidschab.


Mesut Kösker ist gläubiger Muslim, zumindest das passt in das Profil des AKP-Wählers. Aber er gibt auch seit über 20 Jahren seine Stimme bei den Bundestagswahlen ab. Für wen, das verrät er nicht. Dafür sagt er umso freimütiger: „Beim Referendum stimme ich mit Ja." Wenn dafür einige Kunden wegfallen, nehme er das in Kauf.

Sein Land sei in den letzten Jahrzehnten ständig von Neuwahlen und Putschen in seiner Entwicklung zurückgeworfen worden. Die Türkei brauche Stabilität. Dafür stehe Präsident Erdogan. Und die vielen Verhaftungen und Säuberungen in staatlichen Behörden? „Das Land hat einen Putschversuch hinter sich", sagt Kösker. Da müsse nun mal erst verhaftet werden, später erwarte die Verdächtigen ein fairer Prozess. Und Erdogans Nazi-Vergleiche? „Das finde ich nicht gut, aber das ist Wahlkampf, das wird sich wieder normalisieren", ist er überzeugt.


Wirtschaftlicher Aufschwung wird Erdogan zugeschrieben

Wenn Mesut Kösker über seine Sympathien für Erdogan spricht, bekommt man ein Gefühl dafür, was seine Anhänger an ihm schätzen. Köskers Gesten werden immer ausladender, wenn er die Entwicklung seines Landes preist, wenn jemand eine ärztliche Behandlung braucht, bekomme er die, sofort, umsonst. Oder ein Stromanschluss, der werde in wenigen Stunden gelegt, viel schneller als in Berlin. In den letzten 15 Jahren hat die Türkei große wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Die Verfassungsreform sei nötig, um die Erfolgsgeschichte fortzusetzen.


„Meine Landsleute sind sehr sensibel für das Thema Nationalstolz", sagt ein Mann, der sich damit auskennt. Kazim Erdogan, Psychologe und seit über 40 Jahren unter anderem in seinem Verein Aufbruch Neukölln um die Integration seiner Landsleute bemüht. Er wurde dafür mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Er sagt: „Erdogan hat es geschafft, vielen Leuten einzutrichtern, dass er alleine für die Fortschritte der Türkei verantwortlich ist."


Und warum wenden sich so viele Türken, die seit Jahrzehnten hier wohnen, von der Demokratie ab? „Weil kein Wirgefühl entstanden ist", sagt Psychologe Erdogan. In Zeiten, in denen alles normal sei, würden Deutsche und Deutschtürken kaum miteinander reden. Nur wenn die Situation eskaliert. „Ich will nicht, dass wir in einem Monat vor einem Scherbenhaufen stehen." Um das zu verhindern, sei nicht der Ausgang des Referendums entscheidend, sondern das, was danach kommt. Im besten Fall ist das Dialog: Zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager. Und zwischen Deutschen und Türken.


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