4 abonnements et 5 abonnés
Article

Der Kampf des Löwenkindes

Staatssekretärin Sawsan Chebli polarisiert. Aber wie macht sie ihren Job als Staatssekretärin? Eine Geschichte von gegenseitiger Überforderung.


Der Pressetermin läuft nach Plan. Sawsan Chebli würde sagen: Die Geschichte hat den richtigen Spin. Das ist, bevor ihr zwei Mal der rote Aktendeckel aus der Hand rutscht, die Skripte auf den nassen Kudamm klatschen. Und das ist, bevor eine unplanmäßige Frage in die Geschichte platzt. Aber erst mal sind die Kameras da, die „Tagesschau", die Agenturen.


Der Chebli-Effekt

Es ist unerwartet kalt am Kudamm. Chebli - der beige Schal wallend, die pechschwarzen Haare offen - bedankt sich bei rund 60 Menschen, die zum Stolpersteine-Putzen gekommen sind. Menschen, die an Gott glauben, Menschen, die an Jahwe glauben, Menschen, die an Allah glauben. „Das ist ein superstarkes Zeichen, das wir hier setzen", sagt Chebli.


Chebli führt eine Gruppe in die Xantener Straße, liest das Schicksal von Else Weiß, Max Weiß und all den anderen vor. Sie wurden in das Haus mit der Nummer 5 einquartiert, zum Gleis 17 in Grunewald verschleppt, in Vernichtungslager gebracht, ermordet. Chebli deutet auf acht ermattete Stolpersteine im Kopfsteinpflaster, sagt Sätze wie diese: „Man muss sich das mal vorstellen: Die Nazis haben alle Menschen im Haus einfach getötet, sie wollten sie auslöschen. Aber solange wir die Erinnerung an sie wachhalten, wird das nicht gelingen." Polieren. Schweigen. Nach drei Stationen löst die Staatssekretärin die Putztruppe auf.


Dann setzt der Chebli-Effekt ein. Der Frühjahrsputz ist eine europaweite Aktion. In ganz Deutschland haben Bürger und Politiker Stolpersteine geschrubbt. Die Schlagzeile lautet: „Staatssekretärin Chebli putzt Stolpersteine." Dass Berliner Staatssekretäre Schlagzeilen machen, ist so nicht vorgesehen. Wer kennt schon Namen wie Sigrid Klebba, Gerry Woop oder Henner Bunde?


Sawsan Chebli ist Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales sowie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund. Klingt nicht gerade nach einem Job, bei dem man Autogrammkarten mit Porträtfoto braucht. Chebli hat welche.


Und sie denkt nicht daran, sich auf die schnöde Arbeitsbeschreibung des Senats zu beschränken. Antisemitismus-, Islam-, Integrations-, Diskriminierungs-, Rechtspopulismus-, Sexismus-, keine Debatte, die die Staatssekretärin nicht kapert. Die Medien, die Gesellschaft, sie sind fasziniert von der Chebli-Story. Und arbeiten sich an ihr ab. Es ist die Geschichte einer gegenseitigen Überforderung.


Der Aufstieg des Löwenkindes

Cheblis Eltern stammen aus Palästina, flohen 1948 in den Libanon, lebten 20 Jahre in einem Flüchtlingslager. Dann machte der Vater sich auf nach Deutschland, beantragte Asyl, holte Frau und elf Kinder nach. Er wurde drei Mal ausgewiesen - und kehrte drei Mal zurück. Chebli, aus dem Arabischen übersetzt heißt der Name Löwenkind. Kämpfen können sie.


Vor 39 Jahren kam Sawsan Chebli als zwölftes von 13 Kindern in Berlin zur Welt. Lange war die Familie nur geduldet, staatenlos, ohne Arbeitserlaubnis, konnte jederzeit abgeschoben werden. Erst in Deutschland, so erzählt es Chebli immer wieder, wurde die Familie religiös. Sie zogen sich in ihre Dreizimmerwohnung in Moabit zurück, lasen den Koran, beteten fünf Mal am Tag. Richtig Deutsch lernte der inzwischen verstorbene Vater nie. Mit 15 Jahren bekam Sawsan Chebli den deutschen Pass. Ihr Geburtsland, das sie nie verlassen durfte, erlaubte ihr zu bleiben.


Wenn Chancengleichheit und sozialer Aufstieg durch Bildung die Verheißungen der Sozialdemokratie sind - dann ist Sawsan Chebli so etwas wie ihre Inkarnation. Als Kind von Analphabeten lernte sie erst in der Schule Deutsch, machte Abitur, studierte Politik. Mit 20 trat sie der SPD bei. Chebli, deren Familiengeschichte durch Politik gestaltet wurde, wollte selbst Politik gestalten. Hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit - wie sie später in einem Interview sagte. Nur die SPD vertrete diesen Wert authentisch.


SPD-Innensenator Ehrhart Körting holte Chebli 2010 als Grundsatzreferentin für Interkulturelle Angelegenheiten in die Landespolitik. Fragt man Körting heute nach einer Einschätzung, schreibt er Sachen wie „hervorragende Arbeiterin für eine gerechtere Gesellschaft", „ausgezeichnete Kommunikationsfähigkeit". Man würde ihn gern mit Kritik an seiner Entdeckung konfrontieren. Auf ein Gespräch lässt Körting sich auch nach mehreren Anfragen nicht ein.


Im Dezember 2013 dann, Chebli kam gerade aus dem Fitnessstudio, der Anruf aus dem Auswärtigen Amt: Ob sie stellvertretende Sprecherin bei Frank-Walter Steinmeier werden wolle, habe man sie gefragt, so erzählte sie es später betont locker in einem Video-Interview. O-Ton Chebli: „Ich so, ja, ja klar, mache ich. Dann lege ich auf und dachte, Scheiße, was ist denn das eigentlich genau, was heißt denn das, Sprecherin zu sein?"


Die Überforderte

Bundespressekonferenz. Die stellvertretende Außenamtssprecherin Chebli starrt hinter dem Sprechertisch in ihre Dokumente. Tilo Jung, ein YouTube-Journalist, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Sprecher mit naiven Fragen aus der Fassung zu bringen, setzt an: „Frau Chebli, können Sie uns mal sagen, wie das Auswärtige Amt Fluchtursachen definiert? Das haben wir ja seit Monaten nicht gelernt von Ihnen." Chebli ist zu diesem Zeitpunkt seit über zwei Jahren Sprecherin - und lässt sich immer wieder vorführen. Sie laviert minutenlang herum, blickt auf den Tisch, verhakt sich in Nebensätzen, sodass sie am Ende den Hauptsatz nicht mehr findet. Sie wirkt gestresst, genervt. Eine Nachfrage von Jung nennt sie „fast unverschämt".


Was es heißt, Sprecherin zu sein? Es heißt zu verschwinden. Die eigene Persönlichkeit völlig hinter den Positionen des Ministers zurückzustellen. Immer freundlich zu bleiben, emotionslos. Legt man diesen Maßstab an Chebli an, so war sie am Auswärtigen Amt hoffnungslos überfordert. Spricht man mit ehemaligen Kollegen, hört man aber auch, dass sie sich für den Job aufgerieben hat, sich der Sache der deutschen Außenpolitik mit vollem Einsatz verschrieben hat.


Nach der Abgeordnetenhauswahl 2016 holte der Regierende Bürgermeister Michael Müller sie ins Rote Rathaus. Eine Frau, die er nicht kannte, eine Frau, von der ihm so manch Berater abgeraten hatte. Müller, so scheint es, wollte die Chebli-Story, die so gut passt zu seinem weltoffenen Berlin. Sawsan Chebli, die im Abendkleid regelmäßig Blitzlichtgewitter auslöst, sollte die Senatskanzlei zurück auf den roten Teppich holen - dorthin, wo Klaus Wowereit viel zu viel Platz für seinen unscheinbaren Nachfolger Müller hinterlassen hat.


Frage an Gerry Woop, Staatssekretär für Europa (Die Linke, keine Autogrammkarte), wie man sich die ideale Besetzung für Cheblis Job als Bevollmächtige beim Bund vorstellen muss: „Das sollten graue Eminenzen sein, die im Hintergrund die Fäden zusammenhalten", sagt Woop, der mit Chebli bei Vorbereitungen für den Bundesrat an einem Tisch sitzt. Der Bundesrat, er folgt einer ganz eigenen, kleinteiligen Logik von A- und B-Mehrheiten, Ziffernfolgen, Hierarchien. Chebli, so hört man aus dem Bundesrat, fehlt das Gespür für diese technokratische Poesie, sie arbeite sich nicht in Themen ein, schwimme an der Oberfläche.


Aus der Wirtschaftssenatsverwaltung heißt es, wenn es um Internationales geht, dann versuche man lieber an der Staatssekretärin für Internationales vorbeizuplanen. Immerhin: In Sachen bürgerschaftlichem Engagement hört man viel Lob über Chebli.

Ständig hält sie irgendwo Grußworte, Reden im Namen des Senats. Sie holpert durch die Skripte, und immer findet sie einen Weg zu: Sawsan Chebli. Vor Schülern in einer abgedunkelten Schulaula eröffnet sie die Tagung des Europäischen Jugendparlaments in Deutschland, spricht über die Errungenschaften Europas. Wer wisse besser als sie, bis zum 15. Lebensjahr ohne Pass, wie wertvoll Reisefreiheit sei.


In einem dunklen Saal voller Talare und ergrauter Köpfe hält Chebli eine Gedenkrede an einen durch die Nazis in den Tod getriebenen Bischof. Und kommt von der Verfolgung religiöser Minderheiten über den europäischen Rechtspopulismus zu: Sawsan Chebli. Sie sagt, viele Muslime in Deutschland sehen sich als Teil der deutschen Gesellschaft, und „ich diene sogar dem Staat, als Staatsbedienstete und Staatssekretärin, als Muslima".


Chebli sagt immer wieder, sie möchte in einem Land leben, in dem ihre Religion und Herkunft keine Rolle spielt - und redet pausenlos darüber. Sie möchte nicht auf Themen wie Migration oder den Islam reduziert werden - und macht all das selbst immer wieder zum Thema. In Reden, auf Facebook, in der Presse.


Die Überforderten

Zurück zum Pressetermin am Kudamm. Als 26 Stolpersteine geputzt sind und die „Tagesschau" ein Bild von Chebli mit gelbem Schwamm per Twitter verbreitet hat, bricht der Glaubenskrieg in den Online-Kommentaren aus. „Erbärmliche Heuchlerin", steht da. „Musel-Barbie." Die Muslimbruderschaft schicke Leute wie sie, um den deutschen Staat zu unterwandern, schreibt eine Userin. Chebli erhält viele Hassnachrichten - viele davon sind strafrechtlich relevant.


Fromme Muslima in taillierten Hosenanzügen, Flüchtlingstochter im Staatsdienst, Palästinenserin im Kampf gegen Antisemitismus. Das scheint viele zu überfordern. Und dann wird sie ständig mit Aussagen wie diesen zitiert: Die Scharia sei mit dem Grundgesetz kompatibel. Oder dass sie das Kopftuch für ein religiöses Gebot halte - selbst aber keines trage, weil man damit in Deutschland keine Karriere machen könne. Dass sie in Wirklichkeit gesagt hat, nur jene Teile der Scharia, in denen es um die rituelle Verbindung zu Gott gehe, richteten sich nicht gegen das Grundgesetz, spielt keine Rolle mehr. Auch nicht, dass sie inzwischen mehrfach gesagt hat: „Ich trage kein Kopftuch, weil ich es nicht will." Fest steht: Das Einwanderungsland ist mit seiner Vorzeigemigrantin immer wieder überfordert.


Chebli hat viele Kritiker. In Berlin muss man sich nicht lange umhören, schon trifft man Informanten in Cafés, bekommt mit konspirativer Geste Umschläge überreicht. Darin Fotos von Chebli, die sie mit Menschen zeigen sollen, die auf anderen Fotos zum Israel-Boykott aufrufen. Fotos von Menschen, die Reden vor einer Fahne der extremistischen „Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas" halten. Ihre Wege haben sich mit denen Cheblis gekreuzt. Unter anderem bei Juma. Das steht für „Jung, muslimisch, aktiv", Chebli hat das Projekt mitkonzipiert. Es soll auch konservative Muslime zu gesellschaftlicher Teilhabe motivieren. Dialog ist fruchtbarer als Ausgrenzung - so der Gedanke dahinter.


Man trifft Erol Özkaraca, Ex-SPD-Abgeordneter. Er hat das Parteibuch abgegeben, auch wegen Chebli und all den anderen, die, wie er sagt, den politischen Islam in die SPD tragen. Özkaraca meint, Michael Müller gehe völlig blauäugig auf Salafisten zu und hole erzkonservative Muslime in die Partei. „Chebli würde gerne ein Kopftuch tragen? Für wen kämpft so jemand? Für die SPD wohl nicht."


Man würde jetzt gern Chebli zu all den Vorwürfen hören. Aber sie schreibt: „Ich halte mich mit Porträts gerade sehr zurück und muss Ihnen leider absagen."


Unter Kontrolle

Chebli hat die Senatskanzlei immer wieder in Diskussionen verwickelt, auf die keiner vorbereitet war. Erst das Scharia-Zitat. Dann ein überdrehter Sexismus-Vorwurf auf Facebook. „Unter Schock: Sexismus" stand darüber. Ein ehemaliger Botschafter hat sie bei einer Diskussion nicht als Staatssekretärin erkannt. Um sich zu entschuldigen, hat er in Altherrenmanier gesagt, er habe keine so junge, schöne Frau erwartet.


Chebli tritt mit ihren Facebook-Posts immer wieder Diskussionen los - meist bringt sie sich selbst oder Familienmitglieder als Kronzeugen ins Spiel, sei es für Sexismus, Integrationswillen oder Ausgrenzung von Einwanderern. Ihr Sexismus-Post machte tagelang Schlagzeilen, schließlich saß sie in Jan Böhmermanns Talkshow „Neo Magazin Royal" - und spielte die eigenen Vorwürfe herunter.


Ihr vorerst letzter Coup stand in der „Bild am Sonntag": „SPD-Politikerin fordert KZ-Pflichtbesuch für Deutsche und Migranten". Wieder prasselten die Anfragen auf das Presseamt des Senats ein. Danach landete Cheblis Vorschlag in der „New York Times", sie wurde zu Anne Will eingeladen. Die Staatssekretärin sonnte sich in der Aufmerksamkeit.


Für den Regierenden Bürgermeister war das ein Alleingang zu viel. Aus der Senatskanzlei hört man von einer morgendlichen Lagebesprechung in Müllers Büro, von klaren Worten: Die Staatssekretärin, so die Ansage, hat sich ab sofort nur noch zu Fachfragen zu äußern. Punkt. Es war wohl nicht das erste Mal. „Chebli erträgt diese Anpfiffe stoisch", heißt es aus der Senatskanzlei.


Damit wird klar, warum auch das Presseamt schreibt, Frau Chebli stünde für ein Porträt momentan nicht zur Verfügung. Dem farblosen Michael Müller wird die Chebli-Story zu bunt.


Sawsan Chebli weiß, wie man Medien für die eigenen Zwecke einspannt. Sie pflegt enge Beziehungen zur Chefredaktion der „Bild". Sie hat gern die Kontrolle, lässt bestimmte Autoren zu bestimmten Terminen einladen, reagiert pampig, wenn es anders kommt. Telefoniert man ihr Umfeld ab, hat man bald Chebli am Telefon, wird gefragt, was der kritische Ton in den Anfragen soll.


Am Ende der Stolperstein-Aktion muss sich Chebli die Frage gefallen lassen, wie sie es finde, dass der Regierende Bürgermeister sie an der kurzen Leine halte. Das ist der Moment, an dem Chebli die Skripte aus der Hand gleiten. Dann redet sie doch, nur nicht offiziell. Im direkten Gespräch ist sie überzeugend, ganz bei sich, authentisch. Das wirkt, und ist Teil ihres politischen Erfolgs.


Chebli sieht sich als Gestalterin, in der ersten politischen Reihe. Als sie nach der Bundestagswahl kurz als Integrationsbeauftragte im Spiel war, rieben sich manche in der Senatskanzlei die Hände. Sie wollten Chebli loswerden. Auch sie selbst scheint nach Wegen in die Bundesregierung gesucht zu haben.


Jetzt steht die GroKo, Chebli bleibt im Senat, Deutschland hat einen Heimatminister, und der sagt: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Chebli beweist jeden Tag das Gegenteil. Aber auch Löwenkinder verkämpfen sich mal.


© Berliner Morgenpost 2018 - Alle Rechte vorbehalten.

Rétablir l'original